Ärzte schlagen Alarm, die Welt wird immer dicker. Kein Wunder, dass Gesundheit ein Schwerpunkt beim offenen Mountain­bike-Kongress in Saalbach war. 

Christoph Heigl
Christoph Heigl

Die neueste Studie war noch gar nicht veröffentlicht, aber es hätte sie gar nicht gebraucht. Denn beim Mountainbike-­Kongress in Saalbach war die Gesundheit – vor allem die Nichtgesundheit – schon beim Treffen im Saalbacher Spätherbst ein riesengroßes Thema. Die neuesten Zahlen lassen die Alarmglocken umso schriller läuten: Die aktuelle Studie der WHO vom November, veröffentlicht im Fachmagazin „The Lancet“, ist umfassend und erhob Daten von 1,6 Mio. Kindern und Jugendlichen (11 bis 17 Jahre) aus 146 Ländern. Erschreckendes Ergebnis: Nur ein Fünftel der Befragten kommt auf genug Bewegung – was die WHO mit dem Minimum von einer Stunde Bewegung pro Tag als Richtwert definiert. Weltweit sind 81 Prozent der Jungen nicht aktiv genug, am schlechtesten wurde die Situation in südostasiatischen Ländern mit hohem Einkommen bewertet, wo 95,6 Prozent der Mädchen zu wenig Bewegung machen. 

Wer jetzt denkt, im gesunden, gebildeten, sportlichen Österreich sind die Daten wesentlich besser, wird sich wundern. Auch unsere Kinder sind laut Studie und WHO-Einstufung körperlich nicht aktiv genug. Im Erhebungsjahr 2016 hatten 71,2 Prozent der Burschen und 84,5 Prozent der Mädchen zu wenig Bewegung. „Danke, Gameboy, Nintendo und ­iPhone!“, ist man geneigt zu rufen. Doch die Gründe liegen tiefer, sind mannigfaltig und reichen von Fragen des Bildungsstandards, des technologischen Wandels bis zum Couchpotato-Lebensstilund hin zu den ebenfalls nicht aktiven Eltern und damit fehlenden Vorbildern.

Fortschreitende Unbeweglichkeit und Fettleibigkeit(Adipositas) sind die Folgen. Oder wie es Dr. Hans Peter Wagentristl am Mountainbike-Kongress drastisch auf den Punkt bringt: „Die dicken Kinder von heute sind unsere Patienten von morgen.“ Der Kinderfacharzt aus Eisenstadt berichtet, dass alimentäre Adipositas in den letzten 30 Jahren weltweit um das Achtfache gestiegen und ein erhebliches Gesundheitsrisiko geworden ist. Falsches Ess- und Trinkverhalten sind genauso schuld wie der markante Bewegungsmangel. „Wir haben jetzt Kinder mit Fettleber, das hat es früher nicht gegeben.“ In der EU gibt es bereits 14 Millionen fettleibige Kinder. Innerhalb Österreichs sieht Wagentristl beim Thema Bewegung ein starkes West-Ost-Gefälle. „Kinder im Westen scheinen noch mit mehr Bezug zu Bewegung, Sport und Natur aufzuwachsen als Kinder im Osten Österreichs, das ist ganz klar zu erkennen.“ Laut seinen Zahlen ist neuerdings auch ein sozialer Faktor wie Migrationshintergrund ein starkes Indiz für Adipositas. Unterstützung bekommt er am Kongress von Dr. Sven Malte John, Professor für Humanwissenschaften an der Universität Osnabrück, internationaler Gesundheitsexperte und in WHO-Projekte involviert. „Wer arm ist, stirbt früher“, sagt John knallhart. Das sitzt.

Was hat das alles mit Biken zu tun? „Die Gesundheit ist ein großer Hebel für unseren Sport“, hatte Kongress-Initiator Hari Maier schon zu Beginn in die Runde geworfen und provokant die Vision „E-Bike auf Krankenschein“ in den Raum gestellt. Den Ball nahm John spielend auf: „Das sind keine fake news! ­E-Bike auf Krankenschein würde sich gesundheitsökonomisch fantastisch rechnen.“ Der Gesundheitsexperte zählt Bewegungsmangel längst in die Riege der „vier Killer“, wie er Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs und Atemwegserkrankungen nennt. „Erwiesenermaßen sinkt auch das Krebsrisiko bei Sport und Bewegung.“ In seinem Vortrag zeigte er das Bild von Michelangelos strammem David in Florenz und konterkarierte es mit der fiktiven Statue eines fetten „David“ in New York. „Dabei waren wir Menschen früher in der Lage, Antilopen zu Tode zu hetzen.“

 Die dicken Kinder von heute sind unsere Patienten von morgen.

Dr. Hans Peter Wagentristl

Biken auf Krankenschein wäre für John die ideale Maßnahme, um Bevölkerungsschichten, „die nicht so offen für Bewegung und Sport sind“, zu erreichen und die WHO-Vision „Be healthy, be mobile“ zu unterstützen. „Ich fordere das regelrecht ein!“ Vorbild sei für ihn ein „Golden Girl aus Lermoos“, die mit 89 Jahren täglich E-Bike fährt und auf 5000 km im Jahr kommt. Das Gegenbeispiel von komplett unsportlichen Kindern kennt Kinderarzt Wagentristl aus der Schulpraxis: „Die Kinder, die sich dringend bewegen sollten, sind dann die, die im Turnunterricht mit den Turnbefreiungen durch Eltern oder Ärzte anmarschieren.“

Wie E-Biken auf Krankenschein in der Praxis ausschauen könnte, in der Realität aber noch aussieht, erzählten Ex-Skifahrer Stephan Görgl und die Sportwissenschafterin Iris Mittendorfer. Sie haben den 1. E-Bike-Verein Tirols gegründet und bieten geführte E-Bike-Ausfahrten an. Aber nicht mit fitten Sportlern, sondern mit schwer lungenkranken Patienten. „Das E-­Bike ist das ideale Reha-Gerät“, ist der Ex-Profi überzeugt, der wegen vieler Verletzungen selbst ausreichend Reha-Erfahrung hat. Strukturen im Gesundheitswesen gibt es dazu keine. „Ich warte auch nicht auf Politik und Tourismus, ich baue mir das selber auf“, sagt der Ex-Weltcupsieger. 

Ungeahnte Emotionen
Die Sportwissenschafterin Mittendorfer arbeitet mit Knie- und Lungenpatienten und verschafft ihnen am E-Mountainbike ungeahnte Erfolgserlebnisse. „Schwer Lungenkranke schafften nach einem 12-Wochen-Kurs am Bike 800 Höhenmeter“, erzählt sie. Gute Kontrolle der Herzfrequenz, Gruppendynamik und Steigerung der Lebensqualität sind für sie unschlagbare Argumente. Doch (noch) ist nicht alles eitel Wonne: Weil das E-Bike von den Gesundheitsbehörden offiziell nicht als Therapiemaßnahme genehmigt ist (wie Schwimmen, Turnen oder Nordic Walking), bekam sie Ärger mit den Behörden. Strafandrohung wegen Verbesserung der Volksgesundheit? Weit haben wir es gebracht.

Bei der Gelegenheit: Natürlich wäre auch „normales“ Mountainbiken ohne Motor dazu geeignet, Menschen zu mehr Sport und Bewegung zu verhelfen, aber die Einstiegsschwelle ist bei motorisierter Unterstützung eben niedriger. „Die Sozialversicherungssysteme stehen vor einer großen Challenge“, waren sich Hari Maier und die Experten am Kongress einig. Und sie sind sicher, dass das Thema E-Bike einen Beitrag leisten könnte, in der Reha, in der Kinder-Reha, bei Schulsportwochen. „Dazu brauchen wir aber einen Bewusstseinswandel bei den Entscheidungsträgern“, weiß auch Dr. John. Ein paar positive Beispiele machen Mut: Ein deutsches Gymnasium mit radbegeistertem Sportlehrer will Mountainbiken ab 20/21 als Wahlpflichtfach anbieten und in Schottland können Ärzte ihren Patienten seit 2018 „Natur“ verschreiben und sie zu einem Strandspaziergang oder zu einem bewussten Umgang mit Sand, Erde, Holz, Gras animieren.

Wer arm ist, stirbt früher.

Dr. Sven Malte John, Professor für Humanwissenschaften

Mountainbike- Kongress Österreich
Gesundheitsmotor E-Bike, Adipositas, Neuro-Marketing, Trailbau, Wegehalterhaftung. Der österreichische Mountainbike-Kongress in Saalbach ist bereits traditioneller Treffpunkt der über den Tellerrand blickenden Bike-Community mit Wirtschaft, Tourismus, Umweltbehörden, Fachvertretern und Medien. Veranstalter: Hari ­Maier.

Nächster Termin: 29. September bis 1.Oktober 2020.

Facebook: www.facebook.com/mountainbikekongress
Web: www.mountainbike-kongress.at