Nicht zwei Minuten talwärts, sondern 90 Minuten bergwärts: Bei einer Wanderung auf die Streif ­philosophierte Olympiasieger ­Matthias „Mottl“ Mayer mit uns über Risiko und Sicherheit – und über das Gefühl von Freiheit.
 

Thomas Polzer
Thomas Polzer

Verkehrte Welt in Kitzbühel. Blumenwiese statt pickelhartem Eis, gemütliches Bergauf statt 140-km/h-Downhill und entspanntes Marschieren statt nervöser Hochspannung. An einem sonnigen Frühsommertag hatte der ÖSV seine besten Abfahrer und Techniker zu einer gemütlichen Wanderung auf die Streif versammelt. Auf dem Weg nach oben haben wir mit dem zweifachen Olympiasieger Matthias Mayer geplaudert: über das gefährliche Leben eines Skirennsportlers, über die Freiheit – und vor allem über das Thema Sicherheit im Skisport.

Wenn du es dir aussuchen könntest, würdest du dann nicht lieber allein auf einen Gipfel steigen, statt hier in einer großen Gruppe die Streif raufzuwandern? 
Nein, das passt für mich perfekt. Es geht ja im Leben nicht immer ums Bezwingen. Es ist kein Kampf für mich, wenn ich auf den Berg gehe, sondern weil ich da gern meine Freizeit verbringe. Klar, ein schöner Gipfel ist immer die Krönung, ich setz mich dann gern ein bissl hin, genieß die Aussicht und lass es auf mich wirken.

Es muss nicht immer um Zeit gehen?
Überhaupt nicht. Ich brauch das wie jeder andere auch, dass Zeit, Geschwindigkeit und dieses „schneller, höher, weiter“ mal keine Rolle spielen. 

Wo wir gerade gehen, bretterst du im Winter mit 140 km/h runter. Da siehst du vermutlich die Blumenwiese schon mit einem anderen Blick als der normale Wanderer, oder? 
Klar, wenn ich die Kuppe da drüben sehe, denk ich mir schon kurz: Wie tät ich die Welle anfahren oder wo die Kurve danach ansetzen. Das hast du irgendwie automatisch drin. Ich seh auch jetzt, wo die Tore stehen und die Linie, die ich fahren müsste. 

Offenbar lässt euch Abfahrer der „Mythos Streif“ nie los.
Es ist halt jedes Jahr was ganz Spezielles. Für mich besonders, weil ich da vor zwei Jahren, nach meinem Sturz in Gröden und dem Brustwirbelbruch den Super-G gewonnen habe. Dieses Comeback war für mich sicher einer der wichtigsten Momente in meiner Sportkarriere und diese positiven Gedanken begleiten mich auch jetzt beim Wandern.

Ein Comeback nach einer schweren Verletzung ausgerechnet auf einer der gefährlichsten Abfahrten der Welt – wie passt das zusammen?
Für die Zuseher schaut es vielleicht so aus, dass ich immer alles riskiere und immer voll am Limit fahre. Die Wahrheit ist: Ich bin eigentlich nie allzu riskant unterwegs, trotz der extremen Geschwindigkeit ist immer alles abgewogen. Nach dem schweren Sturz in Gröden 2015 hab ich gewusst, dass ich diesmal über dem Limit unterwegs war. Seither probiere ich noch konsequenter, eine Linie zu fahren, auf der ich mich wohl- und sicher fühle.

Am besten spür ich beim Freeriden, welch unglaublichen Spaß mir das Skifahren macht.

Matthias Mayer

Kann man auf der Streif, dem „Highway to hell“, wirklich bei jeder Passage noch von kalkuliertem Risiko sprechen?
Zumindest probiert man’s. Natürlich, die erste Kurve, dann runter über die Mausefalle, rein in den Steilhang – das sind die schwierigsten Passagen im Weltcup, das braucht eine große Überwindung, da voll reinzufahren.  Aber trotzdem probier ich es so kalkulierbar und so sicher wie möglich anzugehen.

Gutes Stichwort: Du warst einer der Ersten, die den „Skifahrerairbag“ verwendet haben. Machst du dir zum Thema Sicherheit mehr Gedanken als andere Fahrer?
Ja, ich würde schon sagen, dass ich einer von denen bin, die das Thema ein bissl pushen und die anderen dazu anhalten, sich auch Gedanken darüber zu machen. Dass es nicht selbstverständlich ist, was wir da machen, und dass das Thema Sicherheit heute an oberster Stelle stehen sollte. Wir Spitzensportler riskieren sehr viel und es wird auch von uns sehr viel gefordert. Ganz egal, ob das jetzt von den Sponsoren, den Trainern oder den Medien ist. Es muss sich aber jeder Athlet im Klaren sein, was er da aufs Spiel setzt. Im schlimmsten Fall sein Leben. Da müssen doch alle Beteiligten, von den Fahrern bis hin zu den Zuschauern, das Bewusstsein entwickeln, dass bei aller Show, die wir abliefern sollen, die Sicherheit an oberster Stelle stehen sollte.

Und da gehört für dich der Airbag dazu?
Wir haben beim Skisport einfach keine Knautschzone! Unser einziger Schutz ist das harte Training im Sommer und der daraus folgende körperliche Topzustand. Bei einem Sturz liefert ein Airbag aber diese zusätzliche Knautschzone. Die könnte man sicher noch weiterentwickeln, mehr und mehr vergrößern und dadurch vielleicht noch mehr Sicherheit schaffen.
 

Was kann man im Speedbereich noch ändern, noch sicherer machen?
Es ist in den letzten Jahren ja schon sehr viel Gutes passiert, mit verbesserten Sicherheitsnetzen, besserer Pistenpräparierung. Nur darf man nie aufhören, nie zufrieden sein mit dem, was jetzt ist, sondern man muss ständig am Thema Sicherheit weiterarbeiten.

Hat sich das Mitspracherecht der Sportler in den letzten Jahren  verbessert oder seid ihr bloß noch Teil einer großen Fernsehshow wie die Gladiatoren im alten Rom?
Es gibt beide Seiten. Es hat sich einiges gebessert, aber oft werden wir leider nicht so gehört, wie wir das fordern. Wichtig ist, dass wir mit unseren Forderungen nicht nachlassen, aber das ist in dem riesigen Skizirkus mit seinen mächtigen Verbänden nicht immer leicht.

Ein Blick auf die Skipisten: Ist Skifahren heutzutage ein echt gefährlicher Sport?
Ich glaub, das kann man nicht so pauschal beantworten. Nehmen wir nur den Carvingski: Einerseits haben die Taillierung und die kürzeren Ski das Skifahren für viele leichter gemacht. Andererseits aber denken die wenigsten daran, dass man sich an neues Material erst gewöhnen muss. Es ist wie mit einem schnellen Auto: Wer gleich drauflosbrettert, gefährdet sich und die anderen. Wo ich das größte Manko sehe, ist die körperliche Verfassung. Da ist es ja nicht anders wie bei uns Spitzensportlern: Wer schlecht trainiert ist, wird Probleme kriegen, an einem Skitag oder gar einen ganzen Skiurlaub lang seine Ski unter Kontrolle zu haben.

Du bist jetzt 29 Jahre alt – Speedfahrer erreichen oft erst mit über 30 den Zenit ihrer Karriere. Siehst du das bei dir auch so?
Ich versuche es. Mein Karriereziel wäre es schon, wenn ich serienmäßig aufs Stockerl fahren und so den Abfahrts- und Super-G-Weltcup gewinnen könnte. Das ist das große Ziel jedes Athleten. Und klar, es wäre natürlich auch wichtig, wenn ich noch einige verletzungsfreie Jahre vor mir hätte.

Du hast nach deinem ersten Olympiasieg gesagt: Sobald ich die Ski anschnalle, bekomme ich ein großes Freiheitsgefühl. Spürst du das heute noch genauso?  
Ja, und zwar vor allem, wenn ich privat Ski fahre! Ich war heuer nach dem Weltcupfinale vier Tage am Arlberg freeriden. Das war schon ganz eine ganz lässige G’schicht für mich, da hab ich es richtig gespürt, welch unglaublichen Spaß mir das Skifahren macht. Natürlich liebe ich auch das Rennfahren, ich hab da schon – nicht jeden Tag gleich, muss ich ehrlich sagen – auch ein großes Gefühl von Freiheit. Aber eigentlich brauch ich für dieses Gefühl von Freiheit keine roten und blauen Tore.

Das klingt bei dir alles so positiv. Woher kommt dieses Vertrauen und diese Sicherheit tief in dir drin?
Jeder Erfolg, aber auch jeder Rückschlag ist ja immer auch eine Aufgabe, die man vom Leben kriegt. Ich bin nach meinem ersten Olympiasieg in ein tiefes Loch gefallen, so nach dem Motto: O.k., und was jetzt? Aber irgendwann hab ich erkannt, dass immer der Weg das Ziel ist. Genauso wie heute die Wanderung auf die Streif. Heute weiß ich: Ob ich gewinne oder nicht – ich bin Skifahrer aus Leidenschaft und das gibt mir Sicherheit und Vertrauen ins Leben und in mich selbst.