Zum 3. Mal fand das ­Internationale Lawinensymposium in Graz statt: Ein Nachbericht im Zeichen von Rekordschneemengen und der Freiheit der Berge. Und: wie wirkt sich der Klimawandel auf die Schneemenge aus?

Christof Domenig
Christof Domenig

Schneehölle Österreich“, „Ski-Hooligans“ oder „Lawinenwarnstufe 4: Wintersportler verirrten sich im Gelände.“ Mit seinen Rekordschneemengen brachten der Jänner und Februar 2019 eine Gruppe von Sportlern ins mediale Rampenlicht, die sonst eher die Ruhe als den Rummel suchen. Skitourengeher, Freerider und Variantenskifahrer hätten auf die zweifelhafte Ehre der öffentlichen Aufmerksamkeit wohl gerne verzichtet. Mal reißerisch, mal eine Spur subtiler – aber selten angemessen, so lässt sich das Medienecho rückblickend beschreiben. Die großen Schneemengen des letzten Winters sowie der öffentliche Umgang mit Lawinengefahr waren ein zentrales Thema beim Internationalen Lawinensymposium der Naturfreunde Österreich und der ZAMG Steiermark in Graz, das im Oktober zum dritten Mal durchgeführt wurde.

Nicht nur in Boulevardmedien, sondern auch in den sozialen Medien sowie vonseiten der Politik fanden sich Sportler pauschal verdächtigt, unvernünftig zu sein oder andere, zum Beispiel Bergretter, in Gefahr zu bringen. Andreas Steininger, Bergführer und Ausbildungsleiter bei der steirischen Bergrettung, war selbst ein direkt Betroffener. Nach einer privaten Skitour bei Lawinenwarnstufe 4 hatte er ein Foto mit dem Kommentar „herrlicher Winterwunderwald“ gepostet. Drei Tage sowie etliche unqualifizierte Reaktionen später hatte er das Posting entnervt wieder gelöscht, wie er beim Symposium berichtete – und stellte klar: „Man darf sehr wohl bei Warnstufe 4 eine Skitour gehen, nur sollte man sich auskennen.“

Im langjährigen Schnitt
Viel Diskussionsstoff also, der durch die großen Schneemengen und – das sei nicht verschwiegen – eine unvernünftige Minderheit von Bergsportlern ausgelöst worden war. Die Statistik zeigte am Ende der Saison übrigens Unfallzahlen, die nicht über dem 20-jährigen Durchschnitt lagen. Ein Beweis, dass die große Masse sich sehr wohl vernünftig verhalten hatte. Und auch ein Hinweis, wie wichtig Veranstaltungen wie das Lawinensymposium sind, bei dem sich nicht nur Fachleute austauschen, sondern „Durchschnittsskitourengeher“ und sogar Einsteiger jede Menge direkt verwertbares Wissen abholen können. Wie ist das nun genau mit Skitouren bei Lawinenwarnstufe 4? Was Andreas Steininger in einem Satz auf den Punkt brachte, („man sollte sich auskennen“), führten Martin Edlinger von den Naturfreunden Österreich und Bernd Zenke, langjähriger Leiter des Lawinenwarndienstes Bayern, aus. Sie stellten den von ihnen mitentwickelten „kompetenzorientierten Leitfaden“ W3 vor. W3 teilt (wie von SPORTaktiv schon in der Vergangenheit dargestellt) Skitourensportler in vier Gruppen: Einsteiger, mäßig Fortgeschrittene, Fortgeschrittene und Profis.

Während etwa Einsteigern selbstständige Touren nur bei Lawinenwarnstufe 1 und 2 im Gelände unter 30 Grad empfohlen werden, könnten „Profis“ (sehr gut ausgebildete und erfahrene Freizeit- sportler sind damit natürlich ebenfalls gemeint) auch bei Lawinenwarnstufe 3 und 4 auch im steileren Gelände über 30 Grad unterwegs sein – eben, weil sie ein entsprechendes Urteilsvermögen mitbringen. Dabei solle man zum Beispiel Vorgänge in der Schneedecke kompetent beurteilen können. Mehr zum „W3“-Konzept: w3.naturfreunde.at Für weniger erfahrene Tourengeher besonders interessant war auch der Vortrag des Bergrettungsarztes Stefan ­Heschl. 23 Prozent aller Lawinenunfälle, bei denen jemand erfasst wird, enden laut Statistik tödlich, berichtete Heschl – mit einer bedeutenden Unterscheidung: 52 Prozent überleben nicht, wenn es zu einer Ganzverschüttung kommt (also die Atemwege unter der Schneedecke sind), während nur 4 Prozent der Unfälle mit Teilverschüttung fatal enden. Es gelte deshalb im Ernstfall zunächst, die Ganzverschüttung zu verhindern, und das vermag im Notfall ein Lawinenairbag-Rucksack. Heschl betonte aber auch, dass manche Träger von Airbagrucksäcken in einer Lawine nicht zum Auslösen kommen, weshalb das Auslösen trainiert werden sollte. Und man kann es nicht oft genug wiederholen: LVS-Gerät, Schaufel und Sonde sind die Basis-Sicherheitssausstattung im Gelände – und auch damit gehört der Umgang trainiert. 

DER FREIE SKIRAUM SOLL FREI BLEIBEN: LAWINENSYMPOSIUM

Freiheit und Eigenverantwortung
Die steigende Beliebtheit des Skitourengehens wirft auch Fragen auf. Etwa durch „Modeskitouren“, wie sie gerade bei Einsteigern beliebt sind. Dort auf Tour zu gehen, wo zugleich viele andere unterwegs sind, ist aufgrund des subjektiven Sicherheitsgefühls verständlich und grundsätzlich auch nicht falsch: Wie der steirische Lawinenprognostiker und Alpinsachverständige Arno Studeregger und der Alpinpolizist Klaus Pfaffeneder darlegten, sei die Schneedecke auf Modeskitouren grundsätzlich „zerstört“, womit die Lawinengefahr abnehme. Doch es ergeben sich auch Probleme daraus: Sind mehrere Gruppen, die sich nicht kennen, auf engem Raum in einem Hang unterwegs, werden erfahrungsgemäß wichtige Standardmaßnahmen wie Entlastungsabstände nicht eingehalten. Die Gefahr geht sozusagen von der Menge an Menschen auf engem Raum aus.

Anhand eines Lawinenunfalls am Großen Bösenstein in der Steiermark zeigten Studeregger und Pfaffeneder Folgen der Problematik auf: Passiert ein Unfall, ist ein Fehlverhalten meist nicht einzelnen Personen zuordenbar, Fragen der rechtlichen Verantwortung bleiben dann ungeklärt. Daraus würden sich aber auch „größere“ Fragen ergeben: „Wäre es gesellschaftlich tragbar, die Freiheit einzuschränken, wenn Berge überlaufen sind? Braucht es neue Regeln, oder genügt das Prinzip gegenseitiger Rücksichtnahme?“, stellten Studeregger und Pfaffeneder in den Raum. Antworten sind noch zu finden. Und noch einmal zum letzten Winter mit seinen Schneerekorden: Die Bundesregierung hatte im Februar 2019 einen Lawinengipfel einberufen, unter anderem um rechtliche Konsequenzen für Sportler zu prüfen, die andere in Gefahr bringen. Gemeint waren Tourengeher und Skifahrer, die Bergrettungseinsätze bei der außergewöhnlichen Schnee- und Lawinenlage ausgelöst hatten.

„Die darauf entfachte Diskussion ist ein Abbild unserer Gesellschaft im Umgang mit Risiko und mit Eigenverantwortung“, erklärte die Richterin Dalia Tanczos. Sie hielt fest, dass die Berge schon jetzt kein rechtsfreier Raum sind und die aktuelle Rechtslage ausreichende Sanktionsmöglichkeiten für alle vorsehe, die andere fahrlässig in Gefahr bringen. „Es ist Gott sei Dank in Österreich die freie Entscheidung von jedem Einzelnen, Touren im freien Gelände zu unternehmen oder zu unterlassen“, erklärte Tanczos schließlich. Zum Vorwurf, dass unschuldige Bergretter gefährdet wurden, hielt die Richterin fest, dass Bergrettung freiwillig geschehe, dass es eine Fürsorgepflicht der Einsatzleitung den Bergrettern gegenüber gebe. Und dass es folglich weder ein „Recht auf Rettung“ für in Not geratene gebe noch umgekehrt einen Anlass, die in Bergnot Geratenen zu bestrafen. „Der freie Skiraum soll frei bleiben“, sagte Tanczos, „auch frei von populistischer Anlassgesetzgebung.“

Auswirkung des Klimawandels
Mit Spannung war auch der letzte Vortrag erwartet worden: Andreas Gobiet von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik ZAMG in Graz legte dar, wie sich aus Sicht der Wissenschaft die Schneemengen im Gebirge aufgrund des Klimawandels entwickeln werden. Es kursieren ja Theorien, dass es im Sommer zwar wärmer, im Winter aber kälter und sogar schneereicher wird – was Gobiet zurückwies: Der relevante, langfristige Trend zeigt auch im Gebirge in Richtung höherer Temperaturen. Gobiet legte zwei Szenarien dar: Gelingt es, die Erwärmung im Alpenraum bei 2 Grad zu beschränken, wird die Saison mit geschlossener Schneedecke zwar kürzer, doch vor allem in den höheren Lagen die Auswirkung nicht dramatisch. Beim „Weiter wie bisher“-Szenario ist bis zum Jahr 2100 dagegen mit 4 Grad wärmeren Temperaturen zu rechnen: Unsere Enkel­kinder werden Skitouren unter 2000 m Höhe  dann nur mehr von Erzählungen kennen.

Der freie Skiraum soll frei bleiben: Lawinensymposium im Zeichen von Rekordschneemengen
Naturfreunde

Wissen nützt und schützt
Das 3. Internationale Lawinensymposium von Naturfreunde Österreich und ZAMG Steiermark fand am 12. Oktober in Graz statt. Österreichische und internationale Experten referierten zu den Themenfeldern: Schnee- und Lawinenkunde, Risiko­management, ­Alpinismus und Tourismus, Lawinenprognose und Meteorologie und rechtliche Aspekte.

Mehr erfahren: www.lawinensymposium.naturfreunde.at