Was macht eigentlich ein Wandercoach und wie kommt man auf die Idee, so etwas zu machen? Eine Geschichte über Bundesbahn, Baikalsee und maßgeschneiderte Erlebnis-Vermittlung von nah bis fern.

Klaus Molidor
Klaus Molidor

Das ist das Märchen von ­Martin Weber, der seinen Träumen gefolgt ist, der seine Unangepasstheit letztlich so weit getrieben hat, bis ihn „das System“ aussortiert hat aus seinem sicheren Plätzchen in einer Nische und ihn hinausgetrieben hat, dorthin, wo er immer schon hin wollte: ins Freie, in die Natur, in die Welt. Allein: Es ist kein Märchen, sondern die Wirklichkeit. 

Aufgewachsen in Maria Enzersdorf, dort, wo Windräder stehen statt Bergen, wo das Land schon flach wie ein Brett ist und man bereits das Gefühl hat, man könnte bis zum Plattensee sehen, vor den Toren der Metropole Wien, dort nimmt die Geschichte über den Wandercoach ihren Ausgang. „Wir sind schon immer viel in den Bergen gewesen, Salzburg, Tirol, Vorarlberg“, erinnert sich der heute 55-Jährige. „Das hat damals die Leidenschaft entfacht. Das Hochgebirge hab ich als faszinierende Landschaft erlebt“, sagt Weber. Diese Prägung hat ihn nie wieder losgelassen. Ein Geografiestudium war daher die geradezu logische Folge. „Macht man eine Umfrage unter Geo-Studenten, geben 90 Prozent als Motiv an, dass sie gerne reisen und in die Berge gehen“, sagt Weber und lacht. Genauso ist es auch bei ihm. Und er landet: bei den ÖBB. „In einem guten Job in der Verkehrsplanung, irgendwann auch als Abteilungsleiter.“ Solide Karriere, sicherer Arbeitsplatz, alles auf Schiene. Aber latent bleibt die Unzufriedenheit, dass es das eben nicht ist. „Irgendwann bin ich so in Konflikt mit dem System gekommen, wollte Dinge nicht mehr mittragen, dass ich gekündigt wurde.“ 47 Jahre ist er da alt. Ein Schock. „Ein schwerer Schock, denn ich war in einer extremen Nische und hab mich gefragt, was ich jetzt machen soll.“

Und in der Krise besinnt er sich seiner Träume, seiner Prägung, gesteht sich laut ein, was er immer machen wollte: rausgehen, reisen, die Welt sehen. Die ums Eck und die ganz weit weg. Er macht die Ausbildung zum Wanderführer, beginnt Reiseplanung anzubieten, kommt aber auch hier bald wieder in Konflikte mit der Wirtschaftskammer, denn diesen Bereich decken die Reisebüros ab. Also justiert er nach und macht jetzt „Ausflugsbegleitung“. Weber bietet aber kein Portfolio an Tagestouren, Weitwanderungen oder längeren Reisen an, sondern schneidert nach Maß. Den ersten Stresstest dafür bescherte ihm dereinst seine damals 14-jährige Tochter. „Papa, hat sie gesagt, ich will mit dir einen Urlaub mit Pferden machen. Aber nur mit dir und den Pferden allein, sonst niemand.“ Das war eine echte Challenge, denn wer vermietet schon Pferde an Fremde. Viel Recherche war da notwendig, am Ende stand ein Urlaub in Irland, in einem Cottage mit Pferden. „Wir waren ganz alleine und sind geritten und hatten eine wunderbare Zeit“, erinnert sich Weber. Rosamund Pilcher in echt quasi. 

Heute klärt er in Vorgesprächen die Wünsche der Kunden genau ab, neben Ziel und Dauer geht es auch darum, wie herausfordernd es sein soll. Oft haben die Gäste schon sehr genaue Vorstellungen. Manchmal muss er aber ganz genau zuhören und tüfteln, um die Bedürfnisse zu erfahren und danach das Ziel auszuwählen. „Eine Biobäuerin aus dem Weinviertel wollte einmal einfach irgendwohin, wo es besonders ist. Sie vertraue mir da voll“, erinnert sich Weber. Viel mehr Eckpunkte waren in dem Vorgespräch nicht auszumachen. Außer, dass Wasser dabei sein soll. Weber sucht nach einem besonderen Platz und fährt mit der Frau in die Schladminger Tauern, zum Klafferkessel. „Mitte Juni ist das noch fast polar. Die Seen sind teilweise noch gefroren gewesen. Eine traumhafte Gegend.“ Und genau das Richtige. „Die Dame hat gesagt, es war genau das, was sie sich vorgestellt hat.“

Wieder hat es sich Weber also in einer Nische eingerichtet. Aber in einer, die ihn jetzt erfüllt, die Leidenschaft und Lebensunterhalt zusammenführt. Der Bedarf an Erlebnissen in der Natur steigt nämlich. Stetig. „Noch vor drei, vier Jahren waren Schneeschuhwanderungen kaum Thema, jetzt boomt das geradezu“, erzählt er aus der Praxis. Reiseziel, Planung, Navigation, all das bietet Weber an. Vor allem aber erklärt er seinen Gästen die Kulturlandschaft, vermittelt Wissen über Felsformationen, Gesteinsarten, Botanik. Wer mit ihm wandert, nimmt immer auch etwas mit, das über das reine Wandererlebnis hinausgeht. Zum Beispiel dass der „atlantische Himmel“ nicht auf der Firmament über dem Ozean beschränkt ist. „So nenne ich den Himmel, wenn die Kontraste besonders scharf sind. Das ist meist nach einem Wettersturz mit Regen so, wenn alles ausgeputzt wird und die Farben besonders klar sind“, erklärt Weber.

Rausgehen, reisen, die Welt sehen. Die ums Eck und die ganz weit weg.

Martin Weber

Wer ist jetzt aber die klassische Klientel, die sich eine Reise zusammenstellen lässt und mit dem 55-jährigen Niederösterreicher wandert, und wohin vor allem. „Zu 95 Prozent sind es Frauen, alleine oder mit Freundinnen, die eine Tour oder Reise buchen. Von Anfang 40 bis weit in die 80 hinein“, sagt Weber. Auch Familien sind darunter. Männer alleine so gut wie nie. „Die wollen sich nicht von einem anderen Mann führen lassen.“ Bei den Reisezielen lässt es sich schon nicht mehr so klar eingrenzen. Vom Waldviertel bis Kirgistan, von den Niederen Tauern bis zu den Kap Verden, von der Buckligen Welt bis zum Baikalsee reicht das Spektrum. Er bietet seine Reisen auch Sommer wie Winter an. Vieles hat der unangepasste Erlebnis-Maßschneider gesehen, eine Destination hat ihn aber besonders beeindruckt: der Baikalsee in Sibirien. „Die Eisformationen sind einzigartig. Der See ist ja 800 Kilometer lang und du hast Schattierungen von grün, schwarz, blau, dazu Eishöhlen an den Ufern. Die Eisdecke ist zweieinhalb Meter dick, darauf kannst du mit dem Auto fahren. Dann gibt es heiße Quellen wo du bei minus 30 Grad Außentemperatur in 40 Grad heißes Wasser steigst und badest.“

Das Nahe im Fremden und das Fremde im Nahen fasziniert ihn. Darum sind seine Lieblingsplätze auch Wildalpen in der Hochsteiermark und der Nordwald im nördlichen Waldviertel an der tschechischen Grenze. Klar sind auch diese Gegenden schon touristisch erschlossen, es gebe aber immer noch die ganz große Einsamkeit in der Natur. „Man muss nur die große Geografenfrage ‚wo?‘ und ‚wann?‘ beantworten. Auch wenn das Geschäft gut geht – ausschließlich davon leben kann Weber nicht. Also hat er noch einen 20-Stunden-die-Woche-Job, richtig, bei den ÖBB. „Heute schätze ich das Unternehmen, das mir so viel Freiheit bietet, dass ich meine Arbeit geblockt erledigen kann und auch unter der Woche freinehmen kann, um Wanderreisen zu machen.“ 

Letztlich hat Weber also das umgesetzt, was er immer machen wollte – und schätzt, dass er seine Leidenschaft beruflich ausleben kann. Auch wenn „sich nicht mehr alles ausgehen wird, was ich einmal machen wollte.“ Der Druck, dort und da und hierhin zu reisen, ist kleiner geworden. „Nur nach Patagonien möchte ich unbedingt noch einmal.“ Mit der Rückkehr in die bizarren Eiswelten am Baikalsee dürfte es sehr schwierig werden. „Die Eisdecke ist längst nicht mehr so dick, wie sie einmal war, und die Russen erteilen gerade keine Genehmigung mehr für das Fahren auf dem Eis. So wird es schwierig.“ Klimawandel hautnah erlebt. Vielleicht sollten auch die politischen Entscheidungsträger einmal eine Wanderreise mit Martin Weber buchen.

Vom Waldviertel bis Kirgistan, von den Niederen Tauern bis zu den Kap-­Verden, von der Buckligen Welt bis zum Baikalsee reicht das Spektrum.

Martin Weber