Arbeitspsychologe Johann Beran erklärt im Interview, warum wir während der Arbeit hin und wieder springen müssten und was passiert, wenn wir zu wenig auf Erholung achten.

Herr Beran, Sie sagen: Das Gehirn des Menschen ist nicht beschleunigbar. Das hat sich seit der Steinzeit nicht geändert. Wie schaffen wir dann aber immer mehr in immer kürzerer Zeit?
Johann Beran: Es geht sich eh nicht aus. Oder anders gesagt: Es geht sich insofern aus, als dass die Pharmaindustrie viel verdienen wird. Sie werden eine Zeit lang sehr viele Reserven lockermachen, sie werden dann eine Zeit lang schlechter schlafen und irgendwann kommt die Erkrankung. Das ist im Organismus so, weil wir relativ viel Kraft haben. Wenn wir jung sind, sind die Batterien gut geladen. Da können wir mit unserem Organismus ein bissl viel Blödheiten aufführen, aber die Ressourcen werden knapper und de facto ist Beschleunigung nur punktuell und nur für kurze Zeiträume möglich. Wir sind zu Spitzenleistungen imstande, aber eben nicht dauernd.

Kann sich das über ein ganzes Arbeitsleben in dem Takt ausgehen?
Nein und das merkt man auch an den Burnout-Zahlen. Das werden immer mehr und vor allem trifft es immer öfter Junge. Ich hab im letzten Jahr drei junge Menschen direkt vom Arbeitsplatz in die Psychiatrie bringen müssen, weil es dann plötzlich nicht mehr funktionierte. Es ist eine Illusion, dass unser Gehirn so unglaublich viel leisten könnte. Das sind zwei, drei Stunden über den Tag verteilt insgesamt – das ist der gleiche Status als zu der Zeit, als wir noch in der Savanne gelebt haben. Ich renne ja auch nicht den ganzen Tag vor irgendwelchen Viechern weg oder hinterher. Und dann brauchen wir eben unsere Ruhepausen. Das Gehirn braucht diese Ruhepausen öfter, als man glaubt, weil wir bei dem unglaublichen Input, den wir da haben mit all den vielen Daten und Möglichkeiten, die wir uns in den letzten Jahrzehnten geschaffen haben, sehr viel mehr an Daten verwalten müssen. Wenn man sich vorstellt dass unser Bewusstsein ein kleines Männchen ist, das vor dem Fenster steht und lauter Packerln reinschmeißt, dann wäre es irgendwann gut, wenn der einmal aufhört, damit herinnen die Packerln einmal weggeräumt werden können. Das sind die Phasen, in denen das Gehirn die verschiedenen Schwingungsmuster fährt. Wo wir verarbeiten können müssen.

Oder wie Sie sagen: Wenn das Pendel extrem in die Belastung ausschlägt, muss es danach gleich weit in die Erholung ausschlagen.
Das ist die Balance. Ich kann nicht sagen, die eine Waagschale ist ganz furchtbar schwer und die andere wird schon irgendwie. Es muss einfach ausgeglichen sein. Und ausgeglichen heißt ausgeglichen. Daran lässt sich nicht rütteln.

Aber wie kann man das den Wirtschaftskapitänen und Geschäftsführern so veranschaulichen, dass es wirklich ein Umdenken gibt?
Womit man sie entängstigen kann, ist, dass der Ausgleich eine qualitative Komponente ist und nicht immer eine quantitative. Ich kann eine Stunde hohe Konzentration mit fünf Minuten Herumhüpfen ausgleichen. Wenn ich mich konzentriere, schaltet der Organismus das Kämpfen-Flüchten-Muster ein und dann muss ich auch irgendwann kämpfen und flüchten. Das mache ich nicht den ganzen Tag, sondern ein paar Minuten. Dann sind die Stresshormone wieder weg, der Organismus geht ins System-Reset und ich kann wieder klar denken. Nur: Mein Gehirn sagt mir nicht, dass es sich verändert hat. Also wenn mein Gehirn jetzt langsamer wird oder gar offline geht, bin ich der Letzte, der das mitkriegt. Das gilt auch für Führungskräfte. Wir werden dann automatisch langsamer und unkonzentrierter, auf jeden Fall unproduktiver. Das ist nicht das, was sich ein Unternehmen wünscht. Wenn man Führungskräften die eigenen Messbilder vor Augen führt, kann man sie vielleicht doch überzeugen, dass es andere Möglichkeiten gibt, als immer mehr in immer weniger Zeit.

Leute, die Sie konsultieren, haben den ersten Schritt schon getan und wissen, dass sie etwas ändern müssen. Aber gerade Alphatiere laden sich meist extrem viel Arbeit auf und sagen: Wenn ich das schaffe, musst du das auch.
Ich weiß. Da kann man auch nicht übertrieben viel tun. Es gibt immer wieder Menschen, die sagen: Ich spür nix. Wir haben eben unterschiedliche Batteriesituationen in den Menschen. Manche haben sehr viel Kraft, andere sind prinzipiell schneller erschöpft. Die Bandbreite von normal ist groß. Aber jemand, der sehr ehrgeizig ist und sehr getrieben, der spürt sich immer weniger. Die Stresshormone haben ja die Aufgabe mich vom Spüren wegzuschalten, weil wenn ich beim Kämpfen und Flüchten verletzt werde, darf ich nicht mit Auweh herumhüpfen, sondern muss weiter flüchten. Das unterschätzen die meisten, dass ich mich in solchen Zuständen überhaupt nicht im Entferntesten spüre. Ich spüre mich immer erst dann, wenn ich eine Extreminformation vom Organismus kriege, nur dann ist es eben schon zu spät. Bis der Organismus diese Infos kriegt, kann es bei verschiedenen Menschen verschieden lange dauern. Das geht bei den einen in ein paar Wochen, manche brauchen Jahre.

Burnout wird ja immer wieder auch als „Modekrankheit" abgetan.
Klar, denn was stört will ich nicht haben. Führungskräfte haben zumeist den Vorteil, dass sie sich manchmal ihre Zeit doch selber einteilen können. Die schaffen sich die Pausensetzungen bewusst oder unbewusst in den Tag hinein, weil sie oft gesellschaftlich verpflichtet sind, irgendwas für den Organismus zu tun, daher tun sie dann auch was für den Ausgleich und wenn es nur golfen ist. Oft kommt dann eher noch das Soziale zu kurz. Familiär schaut es dann halt nicht so toll aus. Wovon man aber ausgehen kann, ist, dass es irgendwann alle treffen wird ...

Okay ...
Vor allem wir haben ja keine Vergleichsdaten. Ich weiß ja nicht, wie es einem heute 40-Jährigen dann geht, wenn er 70, 80 ist. Und die 80-Jährigen von jetzt hatten eine andere Beschleunigungsqualität. Bei meinem ersten Studium habe ich den Rechner noch mit Lochkarten gefüttert, die wir selber gezwickt haben. Das war alles recht langsam. Im Lauf der 50 Jahre seitdem hat sich die Welt unglaublich beschleunigt. Wie sich das auf die Generation der heute 20-Jährigen auswirken wird, kann ich nicht sagen.

Die Prognose, was die psychische Gesundheit der Arbeitswelt betrifft, klingt sehr düster.
Wenn man so will, ja. Weil wir selten imstande sind, zu überlegen, was Konsequenzen sein könnten, und darauf reagieren. Das wird Auswirkungen haben. Der Organismus schluckt viel, aber wir haben eine sehr klare Buchhaltung im Organismus. Es merkt sich nicht nur die Haut jeden Sonnenbrand, wir haben diese Buchhalter in jedem Teil unseres Körpers sitzen. Und irgendwann kommt die Auszahlung, ob wir wollen oder nicht. Wir haben steigende Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wir haben steigende Krebserkrankungen, wir haben eine ganze Reihe von Erkrankungen, wo man ganz genau weiß, das hat etwas mit gestörten Rhythmen zu tun.

Alzheimer zum Beispiel.
Wir wissen, dass die Tiefschlafphasen ganz, ganz wichtig sind. Da weiß man, dass sich das Gehirn zusammenzieht und der Abwassertransport gut funktionieren kann. Wir wissen ziemlich gesichert, dass jede Menge an unterschiedlichen Demenzformen wie Alzheimer auch darauf zurückzuführen sind. Aber wir tun alles so, als wäre nichts. Die Menschen waren immer schon Weltmeister im Verdrängen. Und das werden wir wahrscheinlich bleiben.

Was muss passieren, oder ist der große Crash nicht mehr aufzuhalten?
Das weiß ich nicht. Ich hab das Gefühl, im Moment denken die Gesellschaft und die Wirtschaft an Roboter und nicht an Menschen. Wir sind fasziniert von den Möglichkeiten der Algorithmen und finden das ganz toll, dass die Maschine aus unzähligen Datensätzen sehr viel schneller als ein Mensch Ergebnisse herausholen kann. Was der Mensch dadurch erleidet, wie es ihm geht, wenn er plötzlich viel mehr dieser Algorithmen verarbeiten muss, daran denken wir nicht. Es geht um Optimierung und wir glauben, dass wir den Menschen mitoptimieren können, weil wir an das allgemeine Wachstum glauben. Wie das auf einem geschlossenen Planeten gehen soll, hab ich eh noch nie verstanden.

Was könnte der Einzelne tun, um gegenzusteuern?
Schauen, dass man in seinem Privatleben nicht auch noch viel Belastung einbaut. Langsam unterscheiden sich Arbeits- und Privatleben gar nicht mehr, weil ich sitz vorm Bildschirm. Ob ich das in meiner beruflichen oder privaten Situation tue – es bleibt ein Bildschirm. Ich verarbeite genau solche Datenmengen wie immer und höre nicht auf damit. Irgendwann sollte ich den verdammten Bildschirm endlich vergessen. Fernsehen ist keine Entspannung, weil ich ja wieder viele Daten aufnehme und verwalten muss. In Schlafuntersuchungen kann man sich anschauen, was sich da im Gehirn alles abspielt. Wenn ich zumindest den Bereich wieder entschleunige und entlaste, wäre das ein großer Gewinn. Dann könnte ich das andere ein bisschen ausgleichen, aber wir gleichen nichts mehr aus. Der meiste Ausgleich ist eine Behauptung, aber kein Ausgleich.

Und in der Arbeit?
Wenn ich mir so kleine Durchatemphasen gönne, wo ich eine Minute lang einmal nichts anderes mache, als Ein- und Ausatmen zu spüren. Einmal kurz aufstehen und die Stiegen raufrennen. Damit kann ich schon sehr viel bewegen, weil ich die Stresshormone rauskriege. Dazu brauch ich die großartigen Erlaubnismaschinen nicht, die ein Unternehmen so hat. Gehe ich halt dreimal öfter aufs Klo. Es wird auch immer schwieriger, Arbeit und Freizeit sauber zu trennen. Dank der Kommunikationstechnologien soll ich auch im Urlaub noch Mails checken usw. Wir vergessen auf unsere Bedürfnisse, aber unsere Bedürfnisse vergessen nicht auf uns. Und das führt irgendwann zum Zusammenbruch. Jeder Organismus sucht sich sein eigenes Türl, durch das er uns mitteilt, wie es nicht funktioniert.

Johann Beran / Bild: Johann Beran

DER EXPERTE

JOHANN BERAN ist Arbeits-, Gesundheits- und Notfall-Psychologe in Wien und betreut unter anderem große Firmen wie Siemens in Weiz.

www.praxis-beran.at

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