Bei den Inka wurden Berge als Schutzgottheiten verehrt. Diese „Wächter des Tales“ heißen in Quechua, der Sprache der Inka, „Apu Wamani“. Ein ehrgeiziges Bikeprojekt aus Chile hat zum Ziel, fünf dieser Berge mit dem Bike zu befahren, um auf die Geschichte des ausgestorbenen Volkes aufmerksam zu machen. Unser Autor war beim letzten großen Berg der mehrjährigen Expedition dabei.

Gerhard Czerner

Der Llullaillaco ist mit 6739 Metern der dritthöchste Vulkan der Erde. Auch ist er der höchste unvergletscherte Berg der Erde, was sicher daran liegt, dass er im trockensten Teil der Atacama-Wüste in Chile thront. Hunderte Kilometer entfernt von der nächsten Zivilisation, oft von tosenden Stürmen umtobt, nicht selten unter minus 30 Grad kalt. Klingt alles in allem doch nach einem spannenden Ziel zum Biken, dachte ich mir und hab Pato eine Zusage zu seiner Einladung gegeben. Pato, so die Kurzform von Patricio, hat ein interessantes Projekt ins Leben gerufen: „Guardian del Valle“. Er hat es sich zu Aufgabe gemacht, fünf heilige Berge der Inkas, eben die „Wächter des Tales“, mit dem Bike zu befahren. Alle Berge sind über 5000 Meter hoch, einige sogar über 6000. So auch das letzte Ziel seines Projektes, der Llullaillaco. Die Berge in meiner Umgebung daheim reichen nicht weit über 3000 Meter. Also musste ich andere Möglichkeiten zur Vorbereitung finden. Drei Wochen lang habe ich zu Hause mit einem Höhentrainingsgenerator gearbeitet.

Tagsüber habe ich Einheiten auf meiner Rolle mit dem Bike und der Atemmaske absolviert, nachts in einem kleinen Zelt geschlafen. Kurz vor Abflug konnte ich damit auf einer Höhe von 5000 Meter ohne Probleme treten. Scheinbar gut vorbereitet, aber etwas nervös, was die völlig unbekannte Mannschaft anging, stieg ich ins Flugzeug. Mit dabei war Martin Bissig, ein befreundeter Fotograf aus der Schweiz.  Nach zwei Tagen der Akklimatisierung in den Bergen hinter Santiago ging es mit der ganzen Mannschaft im Auto in nördlicher Richtung hinaus in die Atacama-Wüste. Chile ist ein längliches Land mit etwa 4000 Kilometern Küstenlinie. An dieser fuhren wir zehn Stunden schnurgerade dahin. Gefühlt veränderte sich die Landschaft, wenn überhaupt, erst nach Hunderten von Kilometern. Linker Hand immer Küste. Rechter Hand immer Felsen, Steine und Sand. In der Nähe von Baja Englais dann endlich der Halt für die erste Übernachtung. Bei unserer Ankunft war es noch hell. Wir konnten es nicht erwarten, uns zu bewegen, und fuhren mit den Bikes ein paar epische Lines an der Pazifikküste und genossen den anschließenden Sonnenuntergang am Meer. Traumhaft!

Nächster Tag, gleiches Streckenprofil. Die Zeit verstrich langsam. Gegen Abend erreichten wir endlich die Wüstenoase San Pedro de Atacama. Man sagt, hier gäbe es zwei Arten von Touristen. Die einen kämen wegen der atemberaubenden Natur. Die anderen wegen des berauschenden Kokains. Wir kamen, um uns weiter an die Höhe anzupassen und um die Natur zu genießen. Am dritten Tag verließen wir San Pedro in Richtung „Salar de Atacama“. Vor etwa 3500 Jahren war hier ein See. Heute besteht die 3000 km2 große Fläche aus einer harten, rauen, weißen Schicht Salz, verunreinigt mit Wüstensand. Darunter befindet sich eine lithiumhaltige Sole, darüber flimmert die Luft. Zufließendes Wasser tritt in Tümpeln hervor, die wichtige Biotope bilden. Größer als die natürlichen Wasserstellen sind die Solebecken der Lithiumindustrie. Dieser wertvolle Rohstoff ist wichtiger Bestandteil von Batterien und Akkus. Doch der Abbau des Rohstoffes bringt zahlreiche negative Folgen für die Umwelt und Bevölkerung vor Ort. Die Förderung der Lake aus dem Grundwasser führt dazu, dass der Grundwasserspiegel sinkt und nicht nur die Flussläufe, sondern auch Wiesen und Feuchtgebiete austrocknen. Weideland geht verloren und seltene Vogelarten sind bedroht, die Bevölkerung leidet unter Wassermangel. Grund dafür ist das gezielte Verdampfen des Wassers zur Erhöhung der Lithiumkonzentration in den Becken. Ohne eine Vorkehrung es aufzufangen oder wieder dem Grundwasser zuzuführen. Etwa eine Stunde fuhren wir entlang der endlosen Becken und Wasserleitungen. Ob die E-Mobilität wirklich der Schritt in eine bessere Zukunft ist?

Nach etwa sieben Stunden führten uns Reifenspuren zu einem großen Schild, auf dem „Parque National Lllullaillaco“ stand. Vor uns thronte der Vulkan in seiner ganzen Pracht. Verständlich, dass die Inka in diesen Bergen Gottheiten sahen. Bis zu unserem ersten Lager auf 4800 Meter konnten wir noch mit den Jeeps fahren. Danach ging es auf dem losen Vulkangestein schwer atmend im Schneckentempo dahin. Die Aussicht wurde dafür immer grandioser. Unglaublich, wie vielfältig die Farben der verschiedenen Gesteinsarten hier oben sind. Endlos zogen sich die Schutthänge in den Himmel. Der Sonnenuntergang ließ die Farben der Wüste noch kräftiger werden – und es wurde eiskalt. Tagsüber bis zu 40 Grad und nachts zweistellige Minusgrade! Den neuen Tag nutzten wir, um unsere Fahrräder so weit hinauf wie möglich zu tragen, damit wir am Gipfeltag möglichst kurz die Last auf den Schultern hatten. Zelte, Essen, Steigeisen, dicke Bekleidung, die Bikes – macht für jeden um die 20 kg. Optisch ist der sogenannte Büßerschnee eine Augenweide, zum Überwinden ist er sehr beschwerlich. An manchen Stellen brauchten wir über 20 Minuten für hundert Meter Strecke. In der Nacht wurde ich wach, weil mir schlecht war. Ich bekam Schüttel- frost und musste mich übergeben. Auch am nächsten Morgen hatte ich noch Kopfschmerzen und fühlte mich gar nicht gut. Ich hatte mich entschieden, da ich keine Chance mehr sah, in diesem Zustand mein Fahrrad auf den Gipfel zu tragen, eben dieses vom Hochlager zu bergen.

Kein Berg ist es wert, seine Gesundheit ernsthaft zu gefährden, und die Chance, dass ich unbeschadet dort oben ankommen würde, war gleich null. Also verabschiedete ich mich schweren Herzens von meinen Freunden. Die Abfahrt zurück ins Basislager war extrem anstrengend, aber ein ganz besonderes Erlebnis. Völlig einsam hinab über die Vulkanhänge, einige Kilometer durch die Atacama-Wüste zu den Hütten im Basislager. Ich war überwältigt von der Schönheit der lebensfeindlichen Gegend. Und weil die Symptome der Höhenkrankheit meist sofort verschwinden, wenn man sich in niedrigere Höhen begibt, ging es mir rasch besser.

Bei minus 25 Grad startete der Rest der Gruppe um Mitternacht in Richtung Gipfel. Martin war als Erster gegen 14 Uhr am Gipfel. Der Rest folgte und erreichte um 15.30 den Gipfel auf 6739m. In dieser Höhe ist Biken extrem zermürbend, der Geröllhang hinunter zum Lagerplatz auf 5300 m war dann aber noch ein fahrerisches Highlight für Pato, Frederico und Nico. Zurück im Basislager fielen wir uns in die Arme. Das Adrenalin hielt die Burschen wach und so wurde noch kräftig gefeiert. Es war ja nicht nur der Erfolg am Llullaillaco, sondern auch der krönende Abschluss für „Guardian del Valle“, das gesamte Projekt von Patricio. Es war der Letzte der „Apu Wamani“, der noch lange über die Atacama-Wüste ­wachen wird.