Was ist lustig daran, 24 Stunden lang durchzumarschieren? Für SPORTaktiv machte Klaus Höfler den Feldtest – und gab sich gleich die doppelte Portion. Wie’s ihm ergangen ist, das erzählt er hier. Ganz ehrlich.

Ganz ehrlich? Um halb zwei in der Nacht nach einer kurzen Pause wieder den Rucksack zu schultern, die Wanderschuhe zuzubinden, die Stirnlampe einzuschalten und in die Dunkelheit loszumarschieren: So richtig Spaß macht das nicht. Das liegt nicht nur an der zu dieser Uhrzeit eher begrenzten Fernsicht, sondern auch daran, dass man bereits seit fast 17 Stunden
unterwegs ist. 17 Stunden! Und bis ins Ziel fehlen noch immer sieben Stunden. Sieben Stunden!! Am Ende werd ich also tatsächlich 24 Stunden gewandert sein.
Richtig: 24 Stunden! Und spätestens jetzt kommt sie, die Frage nach dem „Wofür eigentlich?“ Warum und mit welchem Ziel nimmt man eine „24-Stunden-Wanderung“ in Angriff ?
Ganz ehrlich? Es gibt keinen Grund, der vernunftorientierten Kriterien standhalten würde. Vielleicht ist es gerade dieser Schuss Verrücktheit, der einen lockt. Vielleicht ist es die Möglichkeit, ohne monatelangem Training die Dehnbarkeit der eigenen Leistungsgrenzen testen zu können. Vielleicht ist es ein überdimensionaler Hunger nach Natur.
Vielleicht ist aber auch ein gewisses Suchtpotenzial dabei. Denn viele der Starter, egal, ob beim „Stoabergmarsch“ rund um die Leoganger Steinberge, bei den „24 Stunden von Bayern“ oder einem anderen der gar nicht so wenigen Rund-um-die-Uhr-Märsche im Alpenraum, sind Wiederholungstäter. Und die können jetzt, bei der Generalmobilmachung der Gruppe um halb zwei Uhr nachts, die kurze Spaßflaute mit ihrer Routine überbrücken. Da sitzt jeder Handgriff, da passt die Ausrüstung, da wird das zarte Ziehen in den Wadeln weggedehnt, da kehrt der Spaß relativ schnell wieder zurück. Sind ja nur noch sieben Stunden!

RÜCKBLENDE
Der Tag beginnt früh und mit einer kribbelnden Mischung aus Vorfreude, Anspannung und Neugier. Im Kopf dreht sich ein Ringelspiel an Fragen. Was wird mich erwarten? Wird die Hitze bei den vielen Höhenmetern zu einem Problem werden? Hab ich genug zu essen und zu trinken mit? Werden die Blasenpflaster halten? Und warum ist eigentlich bei allen anderen der Rucksack viel kleiner und leichter als der eigene? Nichts gegen eine adäquate Ausrüstung, aber die Angst vor einem gleichzeitigen „Verhungernverdurstenverletzenunderfrieren“ geht eben ins Gewicht. Aber selbst wenn im Hochgebirge jederzeit mit Wetterstürzen gerechnet werden muss: Weniger Gepäck wäre mehr. Sind ja doch nur 24 Stunden ...
Für diese Zeitspanne haben die Organisatoren des „Stoabergmarschs“ im Grenzgebiet zwischen Salzburg und Tirol aus mehreren Wanderrouten eine Strecke von rund 60 Kilometern zusammengestellt. Sie beginnt bei der Talstation der Bergbahnen Fieberbrunn. Letzte Vorbereitungen, letzte Frühstückshappen, letzte Tipps machen unter den 111 Startern die Runde.

GEMEINSAMKEIT STATT HEKTIK
Es ist ein gemischtes Publikum im Alter zwischen 15 und 75 Jahren, das sich um Punkt 9 Uhr auf den Weg macht. Ein gemütliches Anrollen. Kein nervöses Zappeln, kein rempeliges Überholen, kein hektisches Drücken von Stoppuhren wie bei Massenstarts von Laufveranstaltungen. Würde auch nichts bringen. Die 24 Stunden vergehen auch nicht schneller, wenn man die gesamte Distanz laufen würde.
Bei derartigen Wanderevents geht es ohnehin nicht um Geschwindigkeit, sondern um Gruppendynamik. Das Credo lautet: Möglichst alle sollen möglichst gemeinsam 24 Stunden später das Ziel erreichen.
Auch bei den „24 Stunden von Bayern“ steht das Gemeinschaftsgefühl im Vordergrund. Für die sportlich Ehrgeizigeren gibt es aber durch ein ausgeklügeltes Rundensystem die Möglichkeit, Zusatzmeter zu machen. Startplätze in dem auf 444 Teilnehmer limitierten Feld sind allerdings schon kurz nach Öffnen des Anmeldeportals (übrigens: für 2015 am 4. April von 4:44 bis 16:44 Uhr) ein rares Gut. Die „24 Stunden“ sind in der Szene zum Kultevent gereift. Egal, wo, denn durchwandert wird beim Bayern-Marathon jedes Mal ein anderes Gebiet. In diesem Juni war es das Ilztal und Dreiburgenland nördlich von Passau.
Eine 39 Kilometer lange Tagesrunde entlang des Ilztal-Höhenwegs und eine 30 Kilometer lange Nachtrunde unter anderem über Abschnitte des alten Via Nova-Pilgerwegs mit jeweils rund 1.000 Höhenmetern haben die Organisatoren als „Normalprogramm“ in die Landschaft rund um das Museumsdorf Bayerischer Wald geschnitzt – individuell und freiwillig erweiterbar durch eine 10 Kilometer lange „Fitnessstrecke“ auf der Tagroute und eine „Mondscheinstrecke“, die besonders Eifrige nachts noch zusätzliche 10 Kilometer durch die Wälder führt.

GROSSZÜGIGE PAUSEN
Beim „Stoabergmarsch“ – auch er führt jedes Jahr über eine andere Strecke – sind derartige „Zugaben“ nicht vorgesehen. Es reicht auch so, denn gleich zu Beginn geht es einmal gehörig bergauf: Die meisten der 2.000 Höhenmeter haben sich entlang der ersten 20 Kilometer aufgestapelt. Über die Burgeralm und das Spielbergtörl führt der Weg zu den Spielbergalmen, dann hinunter nach Grießen und wieder hinauf Richtung Marchanthorn zur Jungfrau.
Die Wadeln merken sich jeden der knusprigen Anstiege, sei es im offenen Gelände oder im knorrigen Wald. Daran können auch die recht großzügig eingestreuten Pausen nichts ändern, bei denen man seine Akkus auf ganz unterschiedliche Weise aufladen kann: Im Grenzgebiet zwischen Salzburg und Tirol zum Beispiel mit einem wolkenfreien Panorama aus Kitzsteinhorn, Großvenediger, Kitzbüheler Horn, Steinernem Meer und Hochkönig. In Bayern mit Blicken auf die im Sonnenschein funkelnde Ilz, die drei landschaftsbildprägenden Burgen oder Stopps bei Fliegenfischern.
„Das entschädigt doch für die Strapazen“, meint Nathalie. Als Mitarbeiterin des Bergschuhherstellers Hanwag sind die „24 Stunden“ für sie quasi eine Dienstreise. Roland, ein EDV-Techniker aus Salzburg, wurde hingegen von einem Freund in das Abenteuer „Stoabergmarsch“ gelockt. Sowohl für Nathalie als auch Roland ist die Teilnahme an einer Veranstaltung dieser Art eine Premiere. Für beide waren Distanz und Dauer vor dem Start eine zwar respekteinflößende, aber schwer vorstellbare Dimension. Nach acht Stunden haben sie zumindest schon den Hauch einer Ahnung, wie sich das Ganze anfühlt: anstrengend. Aber sind ja eh nur noch 16 Stunden ...

VOM TAG IN DIE NACHT
Wenn andere Wandertage enden, geht es bei den Tag & Nacht-Marathons erst richtig los. In stillen Momenten, wenn man hinter dem Rucksack des Vordermanns einen Höhenweg dahinstapft, bekommen die ewig gleiche Schrittfolge und das konstante Schritttempo etwas fast Meditatives, Entschleunigendes. Dazu kommt durchaus eine sportliche Komponente, auch wenn übliche Wettkampfparameter fehlen. Es geht nicht darum, wer schneller ist. Es geht nicht darum, wer weiter geht, es geht nicht darum, besser als der andere zu sein. Es geht darum, das Rennen gegen den inneren Schweinehund zu gewinnen. Gar nicht so einfach. Der meinige zeigt nämlich gegen Abend erstmals mächtig Muskeln. Aber es sind ja nur noch 12 Stunden ...
Was treibt einen also an, nicht einfach stehen zu bleiben? Worin liegt der Reiz solcher Veranstaltungen? „Den fließenden Übergang von Tag und Nacht bewusst in der Natur zu erleben, dem Wetter ausgesetzt zu sein, die vielen Eindrücke der Landschaft aufnehmen, mit den Kollegen etwas Besonderes zu unternehmen“, überreicht mir Nathalie einen ganzen Blumenstrauß an Motiven, während sie am Lagerfeuer sitzt und ein Stockbrot über die Flammen hält. Auch beim „Stoabergmarsch“ nach einem nächtlichen Abstieg durch die Seisenbergklamm wird der Sonnenaufgang bei offenem Feuer und Essen zelebriert. Und da sind es nur noch vier Stunden ...
Nicht, dass es sich aufgrund des näher rückenden Ziels plötzlich leichter geht. Jeder einzelne Kilometer steckt nach 20 Stunden tief in den Knochen. Aber schön langsam erobern tatsächlich Glückshormone den müden Körper. Um dann in „die totale Erleichterung“ zu fließen, wie schließlich im Ziel auch Nathalie und Roland ihre Gefühlslage beschreiben. Und das trifft’s auch bei mir ziemlich genau. Ganz ehrlich...