Der „Transylvania Ultra“ in Rumänien führt Langstreckenläufer durch die wilde Bergwelt der Karpaten rund um das legendäre Schloss von Graf Dracula. „SPORTaktiv“-Marathonmann Klaus Höfler traf dabei auf Schnee, Geschichten von Bären – und auf die Grenzen seiner Kräfte.

Von Klaus Höfler


Start des Transylvania Ultra unter dem Castelul Bran / Bild: HöflerHier hält er sich also versteckt: der Schnee, der vor unserem Winter geflüchtet war. Knietief hat er sich Mitte Mai am Gipfelplateau rund um den 2.500 Meter hohen Varful Omu zusammengeschoben. Beste Skitourenverhältnisse, aber nicht die optimale Unterlage für einen Trailrun. Immer wieder bricht die dünne Firnschicht unter den Schritten ein, immer wieder verlieren die Schuhe entlang der abschüssigen Traverse den Halt, immer wieder ziehen Wolkenfetzen über den Bergkamm, der bis 1918 die Grenze zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und Rumänien bildete.

Ganz oben, angelehnt an einen Felsblock, steht seither eine Schutzhütte. Sie gilt als das höchstgelegene permanent genutzte Gebäude in Rumänien. An diesem Samstag dient sie als Checkpoint für Läufer, die hier nach und nach eintreffen, sich kurz bei Keks und Fruchtgummis stärken und wieder weiterhetzen.

Es ist kurz nach halb neun in der Früh. Die ersten zweieinhalb Wettkampfstunden sind bereits um – und gerade einmal 16 Kilometer geschafft. Dafür stecken mir bereits 2.000 Höhenmeter in den Beinen. „Wenn du am Omu bist, hast du das Schlimmste schon hinter dir“, hat Till Schneemann am Abend davor erzählt. Er kennt die Strecke von den letzten beiden Jahre. Auch heuer hat er über seinen Sportreiseveranstalter (www.trailrunning-tours.com) wieder eine Gruppe abenteuerlustiger Sportler zum „Transylvania Ultra“ gebracht, einem Trailrun über wahlweise 30, 50 oder 100 km im Bucegi-Nationalpark im Herzen Rumäniens. Viele sind „Wiederholungstäter“, angezogen von der familiären Organisation, vor allem aber von der wilden Gebirgslandschaft rund um das sagenumwobene „Dracula-Schloss“ in Bran, das historische Vorlage für die legendäre Blut­sauger-Geschichte Bram Stokers war. Diese Kulisse zieht bei der 3. Auflage knapp 500 Starter aus 25 Nationen in die Karpaten, darunter gerade einmal drei Österreicher.

WIE EINE AMEISTENSTRASSE
Sie hatten sich auf anstrengende Stunden eingestellt – von der extravaganten Routenlegung im heurigen Jahr hatten aber auch sie noch nichts gewusst. Hinauf geht es dieses Mal nämlich unter anderem durch eine enge Schneerinne. Wie eine Ameisenstraße wirken die kleinen dunklen Punkte, die entlang einer Seilversicherung nach oben kraxeln. Im Näherlaufen wächst die Passage zu ihrer tatsächlichen Dimension an. Da rauf? Auch der Kollege, der ein Stück weiter unten noch ein verzücktes „Ist das schön hier!“ in den atemberaubenden Kessel aus schroffen Felswänden gebrüllt hatte, ist jetzt …. nein, verstummt ist er nicht. Vielmehr schnauft er wie eine Dampflok durch die Trittlöcher hinauf und – fest ans Seil geklammert – über die letzte Schneewechte. Unwillkürlich wird man hier in eine demütige Defensivhaltung gegenüber der Natur gepresst. Sie zehrt einen aus. Ob beim steilen und gefühlt endlosen Anstieg durch den Wald und die Felsrinne hinauf oder bei der Rutschpartie über die Schneefelder wieder hinunter: Die Oberschenkel sind das erste Mal ziemlich leer. Und noch immer 30 Kilometer!

Leichter wird es nicht. Dichte Latschenfelder, schmierige Eisflecken, gatschige Almwiesen – ein richtiger Laufrhythmus will sich da nicht einstellen. Dafür lenkt die Fernsicht ab. In mehrere Stockwerke geschichtet breitet sich die Landschaft vor einem aus. „Weitläufig“ nennt man das, und selten passt es besser: Es ist tatsächlich noch weit zu laufen.

Immer wieder versuche ich, mich an einem anderen Läufer anzuhängen, um mir die Spurensuche entlang der schmalen Geländestufen zu ersparen. Auch die klippenartigen Felskanten hinunter ist es mit einem Pfadfinder leichter. Und als wir plötzlich vor einem Gebirgsbach stehen – zum Überspringen zu breit, zum Drübertänzeln zu tief – und mein Vordermann, ohne zu zögern, einfach ins prickelnd kalte Wasser springt, fällt mir das „Nicht-nachdenken-und-einfach-nur-durch" auch leichter. Nicht nur die notdürftig von den Schneepassagen aufgetrockneten Schuhe sind damit wieder waschelnass, auch die Hose ist es bis knapp unters Knie.

Das alles klingt vielleicht heldenhaft (ist es nicht), viel eher aber verrückt (ist es). Nur ist für eine Beantwortung der an dieser Stelle verständlichen „Warum machst du das eigentlich?"-Frage jetzt leider gar keine Zeit. Vor uns liegt nämlich der Halbzeit-Checkpoint. „Sehr gut! Aber du siehst ein bisschen blass aus", fällt einer Begleiterin als erstes ein, als sie mich sieht. So hört sich Motivation gemixt mit Mitleid an. Stimmt, ich hab mich schon einmal frischer gefühlt – trotz gesunder Höhenluft, erfrischender Kneippkur im Gebirgsbach, jeder Menge Bewegung und der glänzenden Aussicht, „nur" noch 25 km vor mir zu haben.

„Von hier geht es tendenziell nur noch bergab", höre ich noch. Und schon nach wenigen Kilometern berg­ab weiß ich, was sie mit „tendenziell" gemeint hat. Vor mir hat sich eine Skipiste im frischgrünen Frühlingskleid ausgebreitet. Die gelbroten Markierungsbänder führen allerdings nicht zur Talstation, sondern genau in die Gegenrichtung. Nach oben also ...

KEINE ZEIT FÜR SELBSTMITLEID
Wieder bildet sich recht schnell eine kleine Schicksalsgemeinschaft. Im Gänsemarsch schnaufen wir den Berg hinauf, nach Reden ist jetzt keinem mehr. Oben am Sattel baut sich eine monströse Bergwand als Horizontbegrenzung auf. Griff zum Smartphone für ein Foto. Ein Fehler. Just in diesem Moment zwitschert eine SMS aus der Heimat herein: „Willst heute zu Mittag zum Grillen kommen? Bier ist eingekühlt!" Na, mehr brauchst nicht.

Klaus finishte die 50-km-Strecke durch die Karpathen in 9 Std. 16 Min. / Bild: HöflerStatt Steak und Bier krame ich im Rucksack unter der vom Veranstalter vorgeschriebenen Notfallausrüstung (Regenkleidung, Erste-Hilfe-Kit, Biwaksack, Stirnlampe) die letzten Energyriegel heraus und nehme einen kräftigen Schluck lauwarmes Wasser aus der Trinkblase. Für Selbstmitleid bleibt keine Zeit, unser zusammengewürfeltes Team hat sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Der hier startende Singletrail ist nicht nur angenehm zu laufen, sondern zeigt auch endlich in die richtige Richtung: nach unten.

Wieder tauchen wir in einen Wald ein. Plötzlich bebt der Boden. Verschreckt schauen wir in die Richtung, woher wir die anrollende Büffelherde vermuten. Zwei aufgescheuchte Hirschkühe galoppieren Augenblicke später quer durch unser Blickfeld. Puh! Aber immer noch besser als der Bär, den Läufer im vergangenen Jahr entlang der Strecke gesehen haben.

Draculas Landschaft hüllt die Läufer mit einer Überdosis Natur ein. Das lässt einen das permanente Stechen in den Oberschenkeln vergessen. Wenn auch nur für kurz – jede kleine Geländekuppe wird mittlerweile als Riesengebirge wahrgenommen. Die Bergab-Passage bringen zwar nicht mehr die dringend notwendige Energierückgewinnung, die Beine funktionieren aber ohnehin längst im Autopilot-Modus. Sie bringen mich irgendwie zum letzten Checkpoint – und nach knapp über neun Stunden ins Ziel am Fuß des Dracula-Schlosses.
Was mir in dem Moment durch den Kopf geht? Man muss nicht vom Herrn Grafen gebissen werden, um zu entdecken, welch unheimliches Erlebnis dieser Tran­sylvania-Run ist ...

KLAUS HÖFLER stellte sich diesmal am 21. Mai für SPORTaktiv in Rumänien der nicht alltäglichen Herausforderung „Transylvania Ultra“ – ein Lauf über die Distanzen 30, 50 oder 100 km.

„Unser Mann fürs Grobe“ ist die 50-km-Strecke gelaufen, in 9 Stunden 16 min – der Sieger, Radu Milea, schaffte es in sagenhaften 6 Stunden 28 min. Und Sieger über 100 km wurde Robert Hajnal in unglaublichen 15 Stunden 19 min.

Wer mehr über diesen außergewöhnlichen Bewerb wissen will: www.transylvania100k.com Wer 2017 mitlaufen will: www.trailrunning-tours.com.


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