Vor zehn Jahren noch Raucher, vor fünf Jahren Long Covid. Jetzt hat Phillipp Kaider das legendäre Race Across America (RAAM) gewonnen. Wie das funktioniert? Ganz einfach: indem man seine Energie aus Rückschlägen zieht …
Philipp, mit welchen drei Eigenschaften würdest du dich beschreiben?
Stur und neugierig.
Das sind aber nur zwei …
Ja, aber ich glaube, das reicht. Das dürften meine Kerneigenschaften sein. Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, bin ich extrem stur. Das kann man natürlich auch positiver ausdrücken: Ich kann ein Ziel sehr fokussiert verfolgen und dabei alles andere um mich herum ausblenden.
Und die Neugier?
Könnte man auch Begeisterungsfähigkeit nennen. Ich lasse mich gerne für eine neue Idee einnehmen. Und darüber bin ich froh, weil ich dadurch immer wieder neue Wege eingeschlagen und neue Sichtweisen eingenommen habe.
Du warst bis vor zehn Jahren starker Raucher?
Das stimmt. Ich habe in einer Band gespielt, wir haben geprobt, Auftritte gehabt … Zu dieser Zeit lag mein Fokus auf der Musik. Zigaretten und Alkohol haben sich irgendwie angeboten.
Was für eine Band war das?
Mundart-Rock. Laut, falsch und mit Begeisterung!
Wie kam der Wandel, mit 27 Jahren das Radfahren anzufangen?
Die Band hat sich aufgelöst, durch meinen Schwiegervater ist das Radfahren aufgeploppt. Ich habe Bernhard Kornherr kennengelernt, der vom Ultracycling erzählt hat. Das wollte ich auch machen. Also habe ich mich umgepolt und alles in einen Topf geworfen.
Zunächst im Team mit Bernhard, ab 2018 dann solo, 2019 bereits Vize-Weltmeister im Ultraradmarathon. Trotzdem kam eine Sinnkrise. Was war da los?
Ich habe 40 Stunden in der Woche als Pfleger gearbeitet und so viel trainiert wie heute. Ich denke, es war ein psychisches Übertraining. Beim Race Around Austria 1500 lag ich auf Streckenrekordkurs, mit drei Stunden Vorsprung auf den Zweiten. Da dachte ich mir: Was hat das noch für einen Sinn? Also habe ich das Rennen abgebrochen. Ich wollte meine Räder verkaufen und mir endlich einen Hund holen.
Und?
Kein Hund. Die Räder habe ich auch noch. Ich habe meine Sponsoren um Rat gefragt, die mir sofort anboten, mich so zu unterstützen, dass ich meine Arbeitszeit im Klinikum auf 20 Wochenstunden reduzieren kann. Für mich war das einmal mehr der Beweis, dass Rückschläge etwas Gutes haben. Weil man in scheinbar ausweglosen Situationen den Blickwinkel ändert und neue Wege entdeckt. Für mich ist Scheitern deshalb auch nichts Negatives.
2020 kam direkt der nächste Rückschlag. Du hast an Long Covid laboriert. Wie ging es dir zu dieser Zeit?
Ich habe 140 Watt getreten und dabei 160 Puls gehabt. Wochenlang. Die Frage war: aufhören oder weitermachen? Zum Glück habe ich weitergemacht, mich Tag für Tag aufs Rad gesetzt. Manchmal wurde es besser, aber am nächsten Tag wieder schlechter. So ging das sechs Monate. Die Ungewissheit war nicht schön, da sind auch Tränen auf dem Rad geflossen. Aber es hat mich Geduld gelehrt. Für mich ist es zur grundlegenden Philosophie geworden, auch wenn ich bei 45 Grad durch eine Wüste radle und dagegen ankämpfe, mich zu übergeben: weitermachen … Es wird wieder besser.
2022 hast du die WM im 24-Stunden-Einzelzeitfahren gewonnen, obwohl du einen Bandscheibenvorfall wegstecken musstest. War es deshalb ein ganz besonderer Erfolg?
Das war natürlich eine schöne Sache, die auch medial verbreitet wurde. Es gab Leute, die mir sagten, sie hätten selbst einen Bandscheibenvorfall erlitten und nur wegen mir mit dem Radfahren angefangen. Und ich muss sagen, das ist der wahre Pokal: wenn du andere Menschen mitnehmen und motivieren kannst.
Du sitzt rund 1000 Stunden und 30.000 Kilometer jährlich im Sattel. Was sind deine Lieblingseinheiten?
Um den anaeroben Stoffwechsel abzudrehen und wirklich effizient zu fahren, fährst du im Training am besten lange Intervalle von wenigstens 20 Minuten knapp unterhalb der Schwelle. Das mache ich gerne. Ein Bekannter hat das mal als „räudiges Standgas“ bezeichnet, das trifft es sehr gut. Über der Schwelle tue ich mich umso härter. Gestern bin ich beim Sturmkriterium mitgefahren, da treten die Besten kurze Anstiege von fünf Minuten mit 500 oder 600 Watt nach oben. Das ist der Tod für mich. Im Trainingslager habe ich häufig simple Vorgaben wie: Fahr jeden Hügel mit 40 Umdrehungen und 300 Watt hoch. Mach das mal bei einer Sechs-Stunden-Ausfahrt auf Gran Canaria. Das ist widerlich – macht aber leider den Metabolismus effektiver.
Mit „No Carbs, No Glory!“ hast du inzwischen deine eigene Sporternährungsfirma gegründet. Was macht ihr anders?
Wir haben viel an der Kohlenhydratmischung getüftelt, alles weggelassen, was man nicht braucht, dafür viel Natrium hinzugefügt, das die Kohlenhydrataufnahme im Dünndarm unterstützt und bei der Regeneration hilft. Ich würde es als sehr pures Produkt bezeichnen.
Und das kommt auch beim „Race Across America“ zum Einsatz?
Selbstverständlich! Hier nehme ich aber zusätzlich hochkalorische flüssige Nahrung zu mir. Bei kürzeren Rennen bis zu 24 Stunden fahre ich wiederum nur mit meinem Kaloriengetränk.
Kürzere Rennen bis 24 Stunden?
Ja – im Vergleich zum RAAM ist das schon eher kurz.
Wenn ich Menschen frage, was sie in ihrem Leben anders gemacht hätten, sagen fast alle: weniger Sorgen.
Du hast das legendäre Rennen im Juni direkt bei deinem Debüt gewonnen. Welche Eindrücke waren die prägendsten?
Ich denke direkt an die Abfahrt Glass Elevator bei Borrego Springs, die runter in die kalifornische Wüste führt. Du fährst in eine Hitzewand, das fühlt sich an, wie wenn du das Backrohr aufmachst und guckst, ob die Erdäpfel schon fertig sind.
Wie ist das so mit dem Fahrrad im Backofen?
Stundenlang bei 45 Grad durch die Wüste zu radeln, ist unangenehm, aber irgendwie finde ich es auch geil. Andere würden bei den Temperaturen nicht mal aus dem Auto steigen. Es ist abstrakt, beinahe unwirklich, und deshalb so außergewöhnlich schön.
Die letzten Tage hat es dann nur noch geregnet. Hast du dich mal wieder gefragt, was das alles soll?
Überhaupt nicht! Je ärger es regnet und stürmt, desto mehr Gaudi habe ich. In Kansas kam der Regen nicht mehr von oben, sondern nur noch von der Seite. Der totale Blindflug. Daheim würde ich das nicht machen. Aber im Rennen war es einfach cool, zwölf Stunden lange durch so ein Unwetter zu fahren.
Was würdest du tun, wenn du dich nicht bei extremen Rennen austoben könntest?
Ich denke, die Lust auf Intensität ist ein Charakterzug, der viele Ausdauersportler vereint. Ich habe nie etwas normal gemacht, es immer auf die Spitze getrieben. Deshalb bin ich ganz zufrieden damit, dass ich meine extremen Erfahrungen auf dem Rad machen kann.
Du arbeitest bis heute als Krankenpfleger im Landesklinikum Mistelbach auf der Intensivstation. Was lehrt dich die Zeit mit Schwerkranken fürs Leben?
Wenn ich die Menschen frage, was sie in ihrem Leben anders gemacht hätten, sagen fast alle: weniger Sorgen. Das ist für mich die Essenz. Denk nicht zu viel darüber nach, was passieren könnte. Sei mutig und mach es einfach. Und zwar jetzt. Schieb nichts auf! Du weißt nie, ob du später in deinem Leben noch Gelegenheit dazu hast.
Schiebst du denn gar nichts auf?
Doch. Ich sollte mir endlich einen Hund holen.