Werbung

300 Kilometer, 5.400 Höhenmeter, 12 Stunden Zeitlimit. Das ist Istria300. Das neue Rennformat, welches Anfang Oktober dieses Jahres mit einem Kurs von und nach Poreč zum zweiten Mal ausgetragen wurde. Bei perfekten Bedingungen. Perfekt für einen aktiven Saisonausklang auf gesperrten und gut abgesicherten Straßen.

von Cristian Gemmato


Mittendrin statt nur daheim, wie sollte es anders sein, meine Wenigkeit. Unentschlossen von Anfang an, aufs Ganze zu gehen und Heldenstatus zu erlangen. Um es gleich vorwegzunehmen: Wieder nur die 230 Kilometer solide beendet. Gescheitert an der Altersvernunft. Die Komfortzone ist schon etwas Schönes.

Mamas Rennradtipps
Was Mütter sagen, hat immer Hand und Fuß. Manchmal dauert es Jahre, bis man das versteht. Am Start der Istria300 ist mir das so richtig bewusst geworden. Die Worte meiner Mama, dass man im Leben immer ganz genau wissen soll, wo man hingehört, haben um Punkt 7 Uhr des 8. Oktobers 2022 den Lügentest bravourös bestanden. Ich weiß jetzt, dass ich im ersten Startblock eines Radmarathons, nur knapp hinter dem Führungsfahrzeug, nichts, aber schon gar nichts verloren hatte. Die feinen Vorteile dieses Daseins verflogen rasch nach der Aufhebung der Neutralisierung. War es bis dahin ein halbwegs gesittetes Dahinrollen mit der Meute, die sich unaufhaltsam von hinten herangeschlichen hatte, blieb danach nur mehr die Flucht nach ganz rechts. Um nicht gleichzeitig überrollt, überfahren und überfordert zu werden. Mehr als 300 Watt ab Kilometer drei sind für ein Unterfangen, welches bis zu 12 Stunden dauern sollte, einfach nicht ratsam.

Meer, Sonnenuntergang, Trüffel und Burek
Istrien, Poreč, Sonnenuntergang, Meer, Trüffel, Burek … eigentlich reicht das aus, um sich immer wieder hierher zu verirren. Besitzt man eine Yacht (eine wirklich große Yacht), dann ist das Ankern im Hafen sowieso ein Muss. Nennt man aber ein Rennrad sein Eigen, dann ist die Teilnahme an Istria300 die Kür einer langen Radsaison. Die Teilnahme ist unbedingt mit einem Kurzurlaub zu verbinden. Auch weil die Partnerhotels von Valamar (Hauptsponsor der Veranstaltung) mit einer Mindestaufenthaltsdauer von drei Nächten samt Rabattcode locken. Eine durchdachte Strategie. Als Touristiker ziehe ich meinen Hut. Ein paar Tage in Poreč sind kurzweilig. Die Touren rund um die Hafenstadt vielfältig und empfehlenswert. Nicht umsonst war Poreč lange Zeit auch Brennpunkt vergangener Rennradreisen.

Österreich-Enklave Istrien
Geschichtlich betrachtet war Istrien einmal Teil der Kaisertums Österreich. Danach wechselten die Herrschaften. Noch heute findet man in Istrien zum Beispiel Spuren italienischer Vergangenheit. Neben den sowieso anzutreffenden Urlauber:innen aus Deutschland, sind es aber immer noch die Österreicher:innen, die Istrien fest in der Hand haben. Das fängt bei der Istria300-Organisation an und findet in der Zweidrittelmehrheit der Teilnehmer:innen seine Bestätigung. Neben “dobro”, “hvala”, “molim” oder wahlweise “dobro jutro”, “doberdan” bzw. “dobra večer“, kann ungeniert Deutsch gesprochen werden. Auch, weil sich die schlauen Einheimischen, insbesondere Kellner:innen, Bar- und Restaurantbesitzer:innen den zahlenden deutschsprachigen Tourist:innen gut angepasst haben. Mit zynischem und lakonischem “Servas” oder “Pfiat di” werden den Urlauber:innen Heimatgefühle vorgegaukelt. Eine Art Kroatien-Saga.

Rennradfahren als Rechenaufgabe
Über Rennstrategien bei Istria300 könnte man sowieso einen eigenen Beitrag schreiben. Einen, der tief in die Psyche einiger durchdringen müsste. Nicht jener, die vorne weg sind. Die wollen das und können das. Es sind vielmehr andere, die mich beschäftigen. 300 Kilometer sind lang. Auch 230 Kilometer sind es. Warum also Kraft und Energie gleich zu Beginn zu vergeuden? Genau dieser Frage würde ich gerne nachgehen.

Vermutlich haben viele Teilnehmer:innen im Vorfeld viel gerechnet und sich erst auf der Strecke entschieden, wie hoch die Schmerzen sein sollen. Vom Start weg wussten wohl wenige, wie sie die Balance zwischen Kraftdosierung und Zeitmanagement finden sollten. Schnell bildeten sich viele kleine Gruppen, in denen niemand wusste, was die anderen vorhatten. Schnell mitfahren hieß Zeit gewinnen, aber Kraft vergeuden, langsamer schlendern das Gegenteil. Zeit verlieren und Kräfte sparen. Rennradfahren als Rechenaufgabe. Die Streckenposten waren da auch nicht zimperlich und schlossen die Strecken sowie das Ziel exakt nach Vorschrift. Und über allem schwebte sowieso das Damoklesschwert der 12 Stunden für die 300 Kilometer.

Die Grenzen im Kopf
Istria300 hat gerufen, um den Teilnehmer:innen die Möglichkeit zu geben, ihre persönlichen Grenzen kennenzulernen und diese Grenzen zu verschieben. Rückblickend gesehen wurden dabei die mentalen Grenzen am meisten strapaziert. Mit all den bereits erwähnten Hürden. Wer sich hier letztendlich durchgesetzt hat, musste hart im Nehmen sein. Neben starkem Willen, guten Beinen, einwandfreiem Material war viel Sitzfleisch gefragt. Das Interessante an Istria300 ist die Tatsache, dass trotz der vielen Höhenmeter eine ganz andere Durchschnittsgeschwindigkeit gefahren werden kann. Und muss. Will man die Zeitlimits schaffen. Weil es keine langen Auffahrten gibt und die Höhenmeter bei ständigem Auf und Ab über die Distanz verteilt aufs Konto gutgeschrieben werden. Das ist im Vergleich zu einem Ötztaler Radmarathon nicht minder anstrengend, es fühlt sich aber anders an. Drücker sind im Vorteil und Schwergewichte wie ich können sich da und dort gut über die Hügel schwindeln.

300 Kilometer sind lang. Ziemlich lang
300 Kilometer sind lang. Ziemlich lang. Dieses Ziel gleich zu Beginn der Istria300 aufs Spiel zu setzen, war nicht Teil meiner Rennstrategie. Diese lautete (ohne wirklich daran zu glauben), vor 12:30 Uhr in Pazin zu sein, um dann heroisch auf die lange Strecke abzubiegen. So musste (und wollte) ich die Schmach des sich Durchreichen lassens widerwillig und stoisch, aber besonnen auf mich ergehen lassen. Hunderte hechelten an mir vorbei. Niemand wollte meinen komfortablen Windschatten. Noch. Mein Einzelzeitfahren füllte ich mit Foto- und Filmaufnahmen.

Die fehlende Bora (einmal reicht) und die Streckenkenntnis haben dazu geführt, dass auch ich das erste Zeitlimit nach bereits 56 Kilometern mit weniger Bauchschmerzen erreichen und passieren konnte. Auch danach war es solides Dahinrollen. Trotz einiger Streckenänderungen wie die Durchfahrt bei Labin und eine Rampe am Weg nach Pazin. Pazin, das ich genau um 1220 Uhr erreichen konnte. Trotzdem ließ ich mich verleiten, nach links auf die 230er Strecke abzubiegen. Noch heute ärgert mich das. Ich habe mich vor mir selbst angeschissen und das Finish einem möglichen Tod vorgezogen. Dass man im Alter vernünftiger wird, ist kein Vorteil. Plan B also. Damit war die Kraft frei für die letzten ca. 85 km.

Ohne wenn, aber mit viel aber
Ab Pazin ging also die Post ab und ich spendete genügend Windschatten. Auch für jene, die anfangs keinen wollten und sich entlang der Strecke hinter mich gesellten. Mir gefiel die Rolle des Gejagten. Ein paar Versuche, in der Führungsarbeit abgelöst zu werden (auf dem Weg zur goldenen Ananas), scheiterten an der kollektiven Arbeitsverweigerung der restlichen Gruppe. Es blieb mir also keine andere Wahl, als bei der nächsten besten Gelegenheit die Flucht nach vorne zu ergreifen und fast solo das Ziel zu erreichen.

Am Ende blieben viele Fragen offen. Ohne wenn, aber mit viel aber. Was wäre gewesen, wenn ich die 300 Kilometer gefahren wäre? Bin ich nicht. Aber einige, mit denen ich bis Pazin unterwegs war und die mindestens so gelitten hatten wie ich, haben es geschafft, in 10, 11 und unter 12 Stunden ihre Grenzen zu überwinden. Was wäre gewesen, wenn ich mit ihnen gefahren wäre? Bin ich nicht. Aus. Altersbedingte Vernunft ist keine Tugend im Rennradsport.

Herbstradeln in Istrien – nema problema
Es lohnt sich also, sich auf das Abenteuer Istria300 einzulassen. Egal, ob A-, B- oder C-Strecke. Die Organisation, das ganze Rundherum, die Atmosphäre in Poreč, die Bars direkt in der Marina, Valamar als Hotel-Partner – das sind nur einige Wohlfühl-Faktoren, die das Wochenende rund um das Rennen aufwerten. Die Eindrücke, die man gewinnen kann, sind vielfältig. Jene, die bleiben, einzigartig. Man muss Istria155, Istria230 oder Istria300 gefahren sein, um zu verstehen warum.

Es gibt einiges, dass man so einfach nicht beschreiben kann. Wie beispielsweise ...

  • die streng bemessenen und herausfordernden Zeitlimits, die vom Start weg im Kopf herumschwirren
  • die Grenzen, die der Kopf bestimmt und die Beine befolgen
  • ein Finisher-Trikot, über dessen Design man selbst abstimmen kann
  • der enge Zickzack-Kurs durch Pazin
  • die original Istria300 Trüffel Pasta an der vorletzten Labestation (gibt es übrigens in der Konoba Opratlj das ganze Jahr)
  • einige Längsrillen so breit wie Krater (und 28 mm Reifen)
  • die gegen sich und die Natur kämpfende Einzelsportler:innen in einem eigentlich lässigem Mannschaftssport

Istria300 ist und bleibt ein Abenteuer. Für Solisten mit starkem Charakter oder Gruppen mit Gemeinschaftsgefühl. Für sich fahren und da und dort Verbündete zu suchen, kann helfen. Nur so überlebt man den Kurzurlaub in Poreč samt Radmarathon, bei dem einzig und allein der Wille zählt, die magischen 300 Kilometer in 12 Stunden zu knacken. Wir sehen uns hoffentlich wieder am 7. Oktober 2023. Mit altersbedingter Unvernunft.

Cristian Gemmato