Früher balancierte er stundenlang auf einem Stahlseil oder schwang sich auf den Rücken seines Lieblingskalbs. Heute ist er der beste Slalomfahrer der Welt. Ob es da irgendeinen Zusammenhang gibt? Auf jeden Fall scheint Marcel Hirscher schon früh sein Gleichgewicht gefunden zu haben. Und ist heute der beste „Botschafter“ für Österreichs Nationalsport.

Marcel, Sie sind auf der Almhütte Ihres Vaters Ferdinand aufgewachsen. War das eine glückliche oder langweilige Kindheit?

Keine Frage … ich hatte eine glückliche Kindheit! Ich habe viel Zeit in der Natur verbracht, war stundenlang draußen und habe mich auch allein beschäftigt. Das hilft, eine innere Ruhe zu entwickeln. Trotzdem war bei uns immer viel los, am Wochenende hatten wir bis zu 300 Gäste. Langweilig war’s bei uns nur selten …

Stimmt es, dass Sie gerne auf einem Kalb geritten sind?

Ja, das ist richtig. Auf der Weide standen immer viele Kälber, und zu einem habeich so etwas wie eine Beziehung aufbauen können. Bis es mich sogar auf seinem Rücken getragen hat.

Ihr Vater hat nahe der Hütte ein Stahlseil gespannt, auf dem Sie schon als Kind das Balancieren üben konnten. Wollte er da schon den Rennläufer fördern?

Da muss ich ihn mal fragen. In erster Linie wollte er wahrscheinlich, dass ich beschäftigt bin. Im Laufe der Zeit bin ich wohl mehrere Kilometer auf diesem Seil balanciert. In der Hütte waren damals viele Kletterer zu Gast, die haben ziemlich gestaunt, was ich Knirps auf dem Seil anstellen konnte …

Ist es heute ein Vorteil, dass Ihr Gleichgewicht so früh und konstant geschult wurde?

Einige Sportwissenschaftler sind dieser Ansicht. Dazu kommt, dass ich kaum einen Schritt auf ebenem Terrain gemacht habe. Ich bin auf Berghängen groß geworden und habe dabei ein spezielles Körpergefühl entwickelt. Das hilft mir heute sehr.

Welche Fähigkeiten sollte ein Slalomfahrer neben einem guten Gleichgewichtssinn mitbringen?

Man braucht eine schnellkräftige Muskulatur. Die kann bis zu einem gewissen Grad antrainiert werden, aber die Grundausstattung sollte vorhanden sein. Man braucht koordinative Fähigkeiten. Und dann natürlich den Willen, es bis ganz nach oben zu schaffen.

Ihre Karriere verlief auffallend konstant. Lag das an der optimalen Kombination aus Talent und Fleiß?

Das sind jedenfalls Faktoren, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Nur mit Talent geht’s vielleicht bis zu einem Alter von 14 oder 15 Jahren gut. Aber dann wird’s ernst – dann braucht man die entsprechende Konsequenz.

Und ohne Talent? Kann man das Glück auch erzwingen?

Man kann mit Sicherheit viele Schwächen ausgleichen. Das muss ohnehin jeder tun. Aber ich denke nicht, dass man nur durch beinhartes Training jedes Ziel erreichen kann.

Sie haben mit 24 Jahren bereits einige der höchsten Ziele erreicht, sind Doppelweltmeister und zweifacher Sieger des Gesamtweltcups. Ein Vorteil, oder lässt mit den Erfolgen auch der Ehrgeiz nach?

Das kann wohl beides zutreffen. Wichtig ist, dass man seine Vorteile daraus zieht. Und ich sehe das gar nicht so bewusst. Jeder Athlet hat ein Zeitfenster, in dem er Topleistungen bringen kann … und darin scheine ich mich gerade zu befinden.

Sie gehen ja oft als klar Führender in den zweiten Durchgang, ein Sicherheitslauf müsste zum Sieg reichen. Geht Ihnen trotzdem manchmal der Gaul durch?

Das Problem hatte ich früher öfter. Du stehst da oben. Du hörst die Lautsprecher. Die Zuschauer machen Lärm, die Atmosphäre nimmt dich mit – und auf einmal ist es vorbei mit der Selbstkontrolle. Ich kann mich an zwei oder drei Rennen erinnern, in denen ich ausgeschieden bin, obwohl ich mit absoluter Bestzeit unterwegs war.

Und wenn Sie sich unter Kontrolle haben: Kann man dann auf ein paar Zehntel genau fahren?

Auf Zehntelsekunden sicher nicht. Aber man bekommt ein Gefühl dafür, auf welche Passagen es ankommt. In manchen Teilstücken muss man immer Vollgas geben, um nicht zu verlieren.

Aber wenn man vorher weiß: Jetzt braucht es einen perfekten Lauf! Jetzt darf ich keinen Fehler machen! Jetzt darf ich keinen Zentimeter bei den Stangen herschenken? Ist das nicht extrem belastend?

Es gibt natürlich Situationen mit einer extrem hohen Belastung. Aber ich habe in dieser Frage gleich zwei Mal die Formulierung ,darf nicht‘ gehört. Genau das ist der Punkt: Ich darf alles! Ich darf einfädeln. Ich darf einen Fehler machen. Das ist doch alles nur menschlich. Diese Einstellung ist extrem wichtig, nur so kann ich den Druck von mir nehmen.

Aber gewinnen will man trotzdem. Und da sind Fehler leider verboten …

Bei mir ist es so: Ich komme an einen Punkt, an dem ich mir die Frage stelle, was ich jetzt machen soll. Wenn ich schneller fahre, als ich es kontrollierenkann, liege ich draußen. Wenn ich nicht mein Maximum raushole, bin ich zu langsam. Also versuche ich mit meinem Können eine gute Platzierung zu erreichen. Wenn es dann nicht für den Sieg reicht, weil ein anderer schneller war – dann kann ich das akzeptieren.

Bei der WM in Schladming hat sich ganz Österreich Gold von Marcel Hirscher erwartet. Sie haben dem Druck standgehalten und gewonnen. Wie haben Sie das erlebt? Brennen sich solche Eindrücke besonders tief in den Kopf? Verarbeitet man das in seinen Träumen?

Generell habe ich kein besonders gutes Traumerinnerungsvermögen. Aber ich bin häufig am Tagträumen und durchlebe noch einmal spezielle Situationen. Wenn ich am Sonntag ein Rennen hatte, fahre ich vielleicht am Montag nochmal in Gedanken einige der Passagen ab. Das ist oft extrem präsent. Aber je näher ich am Limit war, desto verschwommener ist oftmals die Erinnerung daran.

Die vergangenen beiden Jahre sind kaum noch zu toppen. Jetzt haben Sie gleich wieder den ersten Slalom der Saison gewonnen. Wie schafft man es, sich so auf den Punkt zu motivieren?

Die Erfolge der vergangenen Jahre sind die beste Motivation. Ich fühle mich bestätigt in dem, was ich tun darf. Ich bin stolz und glücklich, ein Skirennfahrer zu sein. Das will ich weiter erleben …

Gibt es trotzdem Tage, an denen Ihnen das Skifahren nur noch wie ein harter Job vorkommt?

Ich freue mich jeden Morgen, wenn ich auf der Piste stehe und trainieren kann. Aber man verbringt natürlich viel Zeit im Auto, schleppt zehn Paar Ski auf den Berg, der logistische Aufwand stört mich manchmal schon.

Warum müssen es denn zehn Paar sein?

Das ist ein Punkt, der in der Öffentlichkeit erstaunlich wenig wahrgenommen wird. Das sind ja keine Ersatzski, sondern andere Ski. Die Kanten sind in unterschiedlichen Graden präpariert. Auf jede Schneebeschaffenheit, auf jede Lufttemperatur müssen wir die perfekte Antwort finden. Bei der Balance des Setups geht es um Zehntelmillimeter, Rennen werden durch Bruchteile einer Sekunde entschieden. Deshalb ist der Servicemann auch so wichtig für den Erfolg des Fahrers.

Ein Grund für Ihren Erfolg war die Unterstützung des Vaters, der eine eigene Skischule besitzt. Was empfehlen Sie anderen Eltern: Soll man Kinder gezielt fördern? Oder verdirbt man ihnen damit nur den Spaß an einem wundervollen Sport?

Eltern müssen Fingerspitzengefühl haben. Die Herausforderung ist es, zu animieren, ohne zu überfordern. Sonst nimmt man dem Kind die Freude. Den Nachwuchs für das Skifahren zu begeistern und ihn dabei zu unterstützen, ist aber definitiv eine super Geschichte.

Leider ist Skifahren ein ziemlich teurer Spaß geworden …

Für eine vierköpfige Familie ist ein Skitag schon ein ziemlich hoher finanzieller Aufwand. Hoffentlich wird’s nicht wie in den USA. Dort ist Skifahren schon ein Luxussport. Natürlich sind schnelle und komfortable Lifte wunderbar.

Aber muss man wirklich so viel investieren? Brauchen wir Rolltreppen in den Liftstationen?

Viele Skigebiete müssen einfach mitziehen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Leute wollen doch schnelle Lifte, frühe Öffnungszeiten und perfekt präparierte Pisten. Und sie wollen sogar dann Ski fahren, wenn es noch gar nicht genug geschneit hat. Das alles kostet Geld, befriedigt letztlich aber nur die Wünsche der Kunden. Und die wollen eben das ultimative Skivergnügen.

Wie sieht es denn bei Ihnen mit dem Skivergnügen aus? Geht das überhaupt – so ohne Sorge vor Verletzungen mal wieder richtig schön powdern gehen?

Gerade heute hab ich darüber mit meinem Trainer geredet. Es ist schon vier oder fünf Jahre her, dass ich das letzte Mal vollkommen frei und privat beim Skifahren war. Nach dieser Saison will ich im Frühling zum Skifahren nach Kanada fliegen. Einfach so, zum reinen Vergnügen. Und ehrlich, darauf freu ich mich jetzt schon, wenn ich nur daran denke ...“


DER SLALOMKÜNSTLER
MARCEL HIRSCHER wurde am 2. März 1989 in Annaberg im Lammertal (S) geboren. Mit 18 Jahren gab er sein Debüt im Ski-Weltcup, im März 2008 stand er im Slalom von Kranjskja Gora zum ersten Mal auf dem Podest und im Dezember 2009 holte er im Riesenslalom von Val d’Isère seinen ersten Weltcupsieg. In den Jahren 2011/2012 sowie 2012/13 gewann der Salzburger den Gesamtweltcup. Dabei gelang es ihm in der letzten Saison, jeden Slalom auf dem Podest zu beenden und als erster Athlet, seit es das aktuelle Punktesystem gibt (1991), über 900 Punkte in einer Disziplin zu sammeln. Im Februar 2013 gewann er bei der WM in Schladming im Slalom und mit dem Team zwei Goldmedaillen. Marcel Hirscher ist noch ledig und lebt in Annaberg. www.marcelhirscher.at