Eine Geschichte über Skifahren und Alpinismus, die Sucht nach Powder und Freiheit. Und den Anspruch, ein guter Vater zu sein. Ski-Mountaineer und  Salewa-Athlet Yannick Boissenot zeigt Impressionen von einem Winter in Chamonix "at home".

Von Julia Englhart und Klaus Molidor

Yannick atmet schwer. Ein harter Aufstieg mit Ski auf dem Rücken liegt hinter ihm. Stille. „Wenn ich die Ski anschnalle, denke ich nur daran, dass erst 40 Prozent der Arbeit erledigt sind und dass das Schwerste erst noch kommt.“ Volle Konzentration. „Das Glücksgefühl kommt erst, wenn ich die Abfahrt geschafft habe und am Fuße des Berges stehe.“ 

Yannick Boissenot ist Skifahrer und Vater. Er ist Vater und Skifahrer. Sein Glück: Er lebt mit seiner Familie in Chamonix inmitten der höchsten Gipfel Frankreichs am Fuße des Mont Blanc. Um diesen neuen, intensiven Lebensabschnitt nicht zu verpassen, entschied sich Yannick für die Heimat und gegen das Reisen. Für den 36-jährigen Skibergsteiger ein Novum, er verbrachte die letzten Jahre unterwegs auf der ganzen Welt – dort, wo der Winter und die besten Lines zu finden waren. Mit dem Entschluss zu Hause zu bleiben, entstand das Projekt HOME. Yannick erzählt in Bildern von seinem Winter zu Hause, neuen Lines und Projekten mit Basecamp in seiner Heimat Chamonix. Aber der Skifahrer fand auch zu innerer Ruhe und Zufriedenheit. Er erkennt, was in seinem Leben wichtig ist und dass die Antwort nicht in fernen Bergregionen der Welt zu finden ist, sondern „at home“. „Du musst nicht weit reisen, um die Wildheit zu spüren.“ Was hinzukommt: Seine Frau teilt die Leidenschaft für die Berge. „Wenn ich mit ihr dort oben Zeit verbringe, fühlen wir uns auch später zu Hause sehr gut.“

Ich wollte [...] zeigen, dass man auch ohne Reisen [...] die gleiche Atmosphäre spüren kann, obwohl man zuhause ist.

Yannick Boissenot

Jeder Vater weiß, dass es nur einen Weg gibt, spätabends oder frühmorgens aus dem Kinderzimmer zu kommen: auf Zehenspitzen Schritt für Schritt und ohne das geringste Geräusch zu machen. Yannick Boissenot ist dieser Moment sehr vertraut. Fast täglich schleicht er am frühen Morgen in das Kinderzimmer, bevor er sich auf die Suche nach steilen Hängen, unberührtem Powder und langen Lines macht. Das Knarzen der Holzdielen und die Versuche, anmutig wie eine Katze zu schleichen, sind sein tägliches Spiel. Die raue Bergwelt rund um Chamonix, den berühmten Ort für Alpinisten und Bergführer in den französischen Alpen, fordert das Gegenteil von ihm. Dort lebt er als Filmemacher, Kameramann und Skibergsteiger. Sein „Arbeitsplatz“ sind die Berge, wo ihn Mut und Ausdauer fordern. Yannick lebt seit zehn Jahren in Chamonix und doch war er als Profiskifahrer fast das ganze Jahr unterwegs in anderen Bergregionen der Welt. Rückblickend weiß er: „Auf dem Mont Blanc erwartet dich eines der schönsten Bergabenteuer der Welt.“

Und ebenfalls weiß er heute zu schätzen, dass dieses Abenteuer direkt vor der Haustür beginnt. „Ich war sehr viel auf Reisen“, berichtet Yannick. „Meine Jagd nach Schnee in der Cordillera Blanca in Peru oder nachdem berühmten japanischen Powder in Hokkaido und die dafür gereisten Tausenden von Kilometern habe ich lange nicht hinterfragt. Selbstverständlich ist nicht nur meine Familie ein Grund, diese ständige Bewegung zu verlangsamen, auch mit dem Klimaschutz waren meine vielen Flugreisen nicht mehr vereinbar.“ Nach drei, vier Tagen in den heimischen Bergen sind die Akkus wieder voll „und ich bin zu 100 Prozent für meine Familie da.“ 

Das Projekt HOME startete Yannick Boissenot im Herbst 2019 mit dem Ziel, die gesamte Wintersaison lang neue Linien und Wege in seinem Wohnort Chamonix zu entdecken und zu realisieren. „Ich wollte mit dem Projekt zeigen, dass man auch ohne Reisen durch die ganze Welt eine Expedition machen und dabei die gleiche Atmosphäre spüren kann, obwohl man zu Hause ist“, erklärt Yannick. „Im Rahmen des Projekts HOME waren wir beispielsweise zwei Tage in den Aiguilles Dorées. Auf dem ersten Teil mussten wir die Arete mit Ski auf dem Rucksack durchqueren. Dann haben wir uns ein Basecamp eingerichtet und sind am Morgen die erste Linie der steilen Nordostflanke gefahren und später im Sonnenuntergang die Flanke gegenüber. Diese Tage haben mir gezeigt, dass man nichts aufgeben, sondern umdenken muss. Manchmal reicht es, die Augen zu öffnen und sich die Nähe besser zu betrachten.“ 

Die Pandemie hat ihn Geduld gelehrt. „Das war nicht meine größte Stärke“, sagt er und lacht. „Corona hat mir viel Zeit mit meiner Frau und dem Baby beschert, das sind sehr wertvolle Momente.“ Dauerzustand braucht die Enschleunigung aber keiner zu werden für ihn. „Es ist gut, einmal Pausen zu machen – aber nicht zu lange.“
Wenn er unterwegs ist auf den Gipfel und durchs Couloir hinunterblickt, hilft ihm sein kleines Kind zu Hause. „Ich denke dann an mein Baby und treffe die bessere, also meistens die sicherere Entscheidung.“