Das ist mal ein Lebenslauf: Filimon Abraham verließ seine Heimat, kam mit Schleusern durch die Sahara und über das Mittelmeer – um sich seinen Kindheitstraum zu erfüllen und professioneller Läufer zu werden.

Axel Rabenstein
Axel Rabenstein

Filimon, erzähl uns von dir – wo hat deine Geschichte begonnen?
Ich bin Filimon Abraham und komme aus Eritrea. Dort bin ich mit sechs Geschwistern auf dem Hof meiner ­Eltern aufgewachsen. Im Hochland von Abessinien, auf 2000 Meter über dem Meer.

Wie kamst du zum Sport?
In Eritrea ist Radsport populär. Das Land war italienische Kolonie, die Italiener haben Radrennen veranstaltet. Mit der Tour of Eritrea fand sogar ein offizielles Rennen der UCI statt. Ich bin selbst Rad gefahren, aber ein Rennrad konnte sich unsere Familie nicht leisten. Schon als Kind war ich von der Idee fasziniert, Profisportler zu sein, so wie der äthiopische Läufer Haile Gebrselassie. Mit Fußball kommst du in Eritrea nicht weit. Radfahren war zu teuer. Also hat mir mein Vater ein Paar Laufschuhe gekauft.

Die mussten dann ein paar Tausend Kilometer halten?
So ungefähr. Mit diesem einen Paar habe ich Intervalle, Dauerlauf, Long Run – mein ganzes Training – absolviert. Die Schuhe waren ganz schön mitgenommen. Aber das war okay für mich, ich freute mich, laufen zu können, war motiviert, immer besser zu werden. Bald konnte ich 80 bis 90 Kilometer in der Woche laufen. Leider gibt es in Eritrea kaum Wettkämpfe für Kinder oder Jugendliche.

Reifte in dieser Zeit der Wunsch, deine Heimat zu verlassen?
Ich wollte Profisportler werden und mir war klar, dass mein Traum in Eritrea nicht in Erfüllung gehen würde. Auch deshalb traf ich die Entscheidung, mir ein Leben in einem anderen Land aufzubauen.

Wusstest du, auf was du dich ­einlässt?
Natürlich haben wir Berichte und Erfahrungen von anderen Flüchtenden mitbekommen. Das waren traumatische Erlebnisse. Das macht dir Angst. Aber die Sehnsucht nach einem besseren, sorgenfreieren Leben ist stark. Also zog ich eines ­Tages los.

Das war 2014. Wie lief das ab?
Zu dieser Zeit flüchteten viele junge Menschen aus Eritrea. Es ist kein Geheimnis, wie das abläuft. Trotzdem musst du vorsichtig sein, eine Flucht ist illegal. Die Regierung will vermeiden, dass junge Menschen dem Land den Rücken kehren. Wer an der Grenze erwischt wird, geht drei oder vier Jahre ins Gefängnis. Das ist in Eritrea keine schöne Perspektive. Deshalb startet die Reise zu Fuß bis über die Grenze. Im Sudan trifft man dann auf die richtigen Leute, es geht nach Khartum und in die Sahara.

Auf einem Pick-up?
Ja, mit bis zu 30 Personen. Wer zahlt, kann aufsteigen. Den Fahrern ist egal, ob unterwegs jemand verdurstet oder von der Ladefläche fällt und in der Wüste zurückbleibt. Das Wasser ging aus, du hast nicht gewusst, ob du den nächsten Tag oder Abend noch erleben wirst. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Wenn ich an die Tage in der Sahara denke, spüre ich noch heute die Angst in mir. In Europa spricht man über die Ertrunkenen im Mittelmeer, das ist präsenter, aber viel mehr Menschen bleiben in der Wüste zurück. Wenn du in Libyen das Meer siehst, hast du den gefährlichsten Teil der Reise hinter dir.

Wie geht es weiter?
In der Nähe von Tripolis wurden wir in Häuser gebracht, versteckten uns tagsüber. Wirst du erwischt, schickt man dich zurück. Es werden auch Menschen festgehalten, um Lösegeld zu erpressen, in Libyen geschehen schlimme Dinge. ­Eines Nachts sind wir dann in ein Boot gestiegen.

Was für ein Boot?
Immerhin, ein Holzboot. Ich schätze, es drängten sich an die 200 Menschen darin. Auch hier ist die Regel einfach: Wer zahlt, geht an Bord, auch wenn das Boot überfüllt ist. Wir waren die ganze Nacht und den Tag unterwegs, nach 20 Stunden ­erreichten wir Sizilien.

Kannst du schwimmen?
Ja, aber das hätte bei einem Unglück nicht viel genutzt. Es war windig, das Meer war sehr aufgewühlt.

Wie viel Geld hast du an die ­Schlepper bezahlt?
Knapp 6000 US-Dollar. Mein Vater, mein Onkel, meine Tante haben mir Geld geliehen.

Mit einem Paar habe ich Intervalle, Dau­erlauf, Long Run – mein ganzes Training – absolviert. Die Schuhe waren ganz schön mitgenommen.

Wie ging es von Sizilien weiter?
Durch Italien bis nach Gießen, wo ich registriert wurde. Zurück nach München in eine große Flüchtlingsunterkunft. Nach einem weiteren Monat nach Teisendorf, in die Nähe von Traunstein.

Nach acht Monaten hattest du so ­etwas wie ein Ziel erreicht. Wie war das?
Traumhaft schön! Es war Frühling, alles war grün und blühte. Es fühlte sich an, als wäre ich neu geboren worden.

Wie beginnt man als Eritreer im Chiemgau ein neues Leben?
Die Menschen haben uns wunderbar aufgenommen. Wir erhielten Kleidung und Schuhe, konnten Sprachunterricht nehmen, nach ein paar Wochen begann ich wieder zu laufen, trat einem Laufklub bei. Nach dem Sprachkurs machte ich ein Praktikum und begann eine Lehre als Schreiner, die ich 2019 abgeschlossen habe.

Parallel zur Lehre bist du gelaufen. 2017 wurdest du Zweiter beim Karwendelberglauf, 2019 hast du den Großglocknerberglauf gewonnen. War das Teil deines Ziels, Profi zu werden, oder stand der Spaß am ­Laufen im Vordergrund?
Ich habe die Ausbildung absolviert und gearbeitet. Das Laufen war der perfekte Ausgleich. Ich lief 80 bis 90 Kilometer in der Woche, der ­Fokus lag aber klar auf der Lehre.

Wie hoch ist dein Pensum heute?
Etwa 170 bis 180 Kilometer in der Woche.

Bei der Crosslauf-EM 2022 wurdest du Fünfter. Kurz darauf, zu Weihnachten, konntest du erstmals zurück in deine Heimat. Wie war das?
Ich hatte inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft, das war wichtig, um sicher nach Eritrea reisen zu können. In meinem Heimatdorf gibt es kein Internet, mit meiner Familie hatte ich über all die Jahre nur telefoniert. Ich konnte Tage vorher kaum schlafen. Der Moment, in dem ich meine Eltern umarmte, war sehr emotional. Alles kam noch einmal hoch. Ich bin sehr dankbar. Es hätte anders ausgehen können, dann hätten meine Eltern mich niemals wiedergesehen.

Im März 2023 hast du in Barcelona deinen ersten Marathon erfolgreich beendet, in 2:08:22 Stunden mit der zweitschnellsten Zeit, die je ein Marathonläufer aus Deutschland erzielt hat. Warst du überrascht?
Ich wusste, dass ich so eine Zeit laufen kann. Leider verfehlte ich die deutsche Olympianorm, mit der ich mich für Paris 2024 qualifiziert hätte. Das wäre die Erfüllung meines Lebenstraumes gewesen.

Was hat gefehlt?
Zwölf Sekunden! Es waren zwei Gruppen, eine war etwas zu langsam, die andere zu schnell für mich. Deshalb musste ich alleine viel Tempo machen.

Welche Zeit ist drin?
In Barcelona war es ein Kilometerschnitt von 3:01 Minuten. Ich denke, dass ich mich bis auf 2:58 Minuten steigern kann. Das wäre eine Marathonzeit zwischen 2:05 bis 2:06 Stunden.

Drei Sekunden je Kilometer – wie viel ist das wirklich?
Sehr viel. Nach 30 oder 40 Kilometern sind diese drei Sekunden eine halbe Ewigkeit.

Es war Frühling, alles war grün und blühte. Es fühlte sich an, als wäre ich neu geboren worden.

Läufst du im Wettkampf nach Puls?
Nein. Wir haben Pacemaker, der Trainer kontrolliert die Zeiten. Ich spüre nur in meinen Körper.

Warum hat es mit der Qualifikation für Paris 2024 nicht mehr hingehaut?
Ich wollte mich beim Marathon in Frankfurt qualifizieren, auch in ­Dubai hätte ich eine Chance gehabt. Leider entzündete sich mein Schambein, es bildete sich ein Knochenödem. Vielleicht wollte ich zu viel. Nun steige ich nach vier Monaten gerade wieder ins Training ein.

Zuvor, im Juni 2023, warst du Dritter bei der Berglauf-WM in Innsbruck. Wohin soll die Reise gehen? Berg oder Straße?
Die Berge sind für mich Erholung, Regeneration für den Kopf. Straße ist intensiver, jede Sekunde am Limit. Nach einem Marathon auf der Straße benötige ich eine Woche, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Berge bleiben für mich aber ein Hobby, ich werde nicht gezielt dafür trainieren. Mein Weg in die Zukunft führt über die Straße. Um davon leben zu können, ist ein City-Marathon das bessere Terrain.

Das Laufen hat dich von deiner Kindheit bis heute begleitet. Was bedeutet es für dich?
Laufen ist Teil meines Lebens und meiner Persönlichkeit. Als Jugendlicher hat es mir die Hoffnung auf ein besseres Leben geschenkt. Es hat mich vorangetrieben, motiviert und bis hierher gebracht. Ich habe viel Energie in das Laufen investiert. Dafür hat es mir Freude und Kraft geschenkt.

Wie nahe bist du heute an deinem Kindheitstraum?
Ich bin seit einem Jahr Laufprofi, das macht mich glücklich und ich fühle mich einerseits angekommen. Andererseits bleibt Olympia mein großes Ziel.

Das wäre also dein Erwachsenentraum?
Ich denke, schon. In vier Jahren bin ich 35 Jahre alt – und werde es wieder versuchen. 

Filimon Abraham
Filimon Abraham

wurde am 9. November 1992 in Eritrea geboren, lebt seit 2014 in Deutschland und besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Im März 2023 erzielte er in Barcelona mit 2:08:22 Stunden die bis dahin zweitschnellste Marathonzeit eines Deutschen, seit Mai ist er Teil des On-Marathonteams. Im Juni 2023 wurde er Dritter im „Classic Mountain“ bei der Berglauf-WM in Innsbruck.

Instagram: @filimon_ _abraham