Faszination Klettern. Exklusiv für unseren Outdoorguide 2017 schildert Kletterprofi und SPORT­aktiv-Experte Herbert Ranggetiner eine „Begehung der besonderen Art" in den Lienzer Dolomiten. Und macht sich dabei seine Gedanken, was in der Begegnung mit den Bergen wirklich zählen sollte.


Es ist einer dieser elendig heißen Sommertage 2010, bei denen Klettern nur im hochalpinen Gelände möglich ist. Franz und ich brettern spätnachmittags mit unserem VW-Bus T2 in Richtung Lienzer Dolomiten, als mich eine Vollbremsung aus meinem Dämmerschlaf reißt. Zwei junge, fesche Mädels suchen eine Mitfahrgelegenheit auf der steilen Bergstraße Richtung Dolomitenhütte. Franz hat dieses komische breite Grinsen und ich greife mir auf den Kopf, da ich weiß, was jetzt folgt. Kurze Zeit später sitzt eines der Mädels aus Platzmangel auf meinem Schoß und Franz muss (wie immer) die Heizung unseres 45-PS-Vehikels voll aufdrehen – so werden aus 30 schnell 40 Grad! Leider ist es die einzige Möglichkeit, den Motor nicht zu überhitzen. Also wurde schon die Anreise im doppelten Sinne heiß, dank natürlichem Zusatzgewicht ...

Ehrlich gesagt: Langweilig, mittelmäßig oder überflüssig war keiner unserer Ausflüge in den vergangenen 20 Jahren – eher jeder für sich einzigartig! Beim Zustieg zum Roten Turm pendelte sich schließlich mein Kreislauf wieder im grünen Bereich ein und nach zwei Stunden Zustieg und einbrechender Dunkelheit lagen wir dann fix und fertig in unseren Schlafsäcken. Im Halbschlaf bekam ich noch mit, wie uns einige Schafe besuchten, ja eigentlich eh alles wie jede Nacht, wir waren definitiv zu Hause!

AUSSEN STILLE, INNEN UNRUHE
Der geniale nächste Morgen beginnt wie immer, mit wenig Worten und viel Kaffee. Wir sitzen unter der 15 Meter überhängenden Wand, an der ich in den letzten 15 Jahren alle schwierigen Routen erstbegangen habe. Es gibt wenig Orte, an denen es so still ist, dass man sein Herz schlagen hört – dies ist so einer! Aber nicht die Ruhe, eher die innere Unruhe ist Motor und Antrieb für Geschichten dieser Art. Eine der Traumlinien hier heroben trägt den Namen ,,Heimspiel" und hat Schwierigkeitsgrad XI–. Ja, das ist schon recht schwierig und wohl auch der Grund, warum diese Route in mehr als zehn Jahren schon oft versucht wurde, aber noch nie geklettert werden konnte.

In der Regel hat ja eine Route im Abstand von ca. zwei Metern Bohrhaken, die als Sicherung im Fall eines Sturzes dienen. In diesem Schwierigkeitsgrad stürzt man zigmal am Tag, da man eben am absoluten Limit klettert. Das heißt, im Normalfall ist ein Sturz ungefährlich, die Herausforderung besteht primär im Raufklettern. Hier hatte ich aber die Idee, die Route ,,clean" zu klettern, also selber abzusichern! Heißt: alle Bohrhaken raus und versuchen, die Route mit mobilen Sicherungsgeräten abzusichern. Im Detail: Ein offensichtlich von zu hohem Koffeinkonsum geistig stark beeinträchtiger Kletterer versucht eine arschglatte, stark überhängende Wand hochzuklettern. Weil das noch zu langweilig ist, stopft er als Zwischensicherung Keile und Klemmgeräte in die spärlich bis gar nicht vorhandenen winzigen Löcher und Risse, ohne zu wissen, ob diese Dinger überhaupt bei einem Sturz halten werden.

In dieser Route können auf 25 Metern exakt drei Klemmgeräte plaziert werden. Meist steht man acht bis zehn Meter über der letzten Sicherung und hat seine Finger auch noch genau in das Loch gestopft, wo auch das Klemmgerät rein sollte. Stürzt man an gewissen Stellen, hat man sehr viel Flugzeit, um nachzudenken. Und der Sicherungsmann sehr wenig Zeit, um zu reagieren. Eigentlich war es dieser selbst herbeigeführte mentale Supergau, der mich reizte. Diese physische und psychische Ausnahmesituation. Eine Geschichte mit Erfolgsgarantie, wenn es um Ansätze von braunen Streifen in der Unterhose geht. Jetzt weiß ich auch, was ,,Angsthase'' mit ,,Hosenscheißer'' zu tun hat.

EIN ABENTEUER, NUR FÜR UNS
Wie oft bei meinen Unternehmungen erscheint das ,,Warum'' im Nachhinein unlogisch. Bei der Aktion selbst war alles logisch und klar. Der Durchstieg war ein Prozess des Lernens, ein Abenteuer im Stillen, dessen Wertigkeit um einiges höher einzustufen ist als die Begehung der Route mit Bohrhaken. Zweitere wurde damals gefilmt und weltweit im TV gezeigt – von Ersterer habe ich nie etwas an die Medien weitergegeben.

Als Franz und ich damals danach auf der Karlsbaderhütte unser Bier tranken, fühlte ich diese geniale, aber aus Erfahrung nicht lang anhaltende innere Ruhe. Ich beobachtete Wanderer, Berggeher, Touristen; jeder war jetzt und hier in seinem Element der King, das Maß aller Dinge, unabhängig von der Art seiner Leistung. Und in solchen Momenten wird mir stets klarer denn je, dass Anerkennung von außen nicht mein angestrebter Preis ist. Mein Wissen um Erbrachtes reicht mir, um zufrieden zu sein. Glücklich macht es mich, wenn ich einem 83-Jährigen gratulieren kann, der sich mit der Wanderung zu einer Hütte noch einmal einen Lebenstraum erfüllt hat.

In Wirklichkeit sind wir und auch die Berge nur ein winzig kleiner Teil der Oberfläche unseres Planeten. Auf diesem kriechen wir herum wie Ameisen und versuchen, kleine Anhöhen zu erklettern oder zu besteigen und glauben, Großes zu bewegen. In der Begegnung mit den Bergen ist es aber nicht wichtig, der Beste zu sein, sondern sein Bestes zu geben! Schluss­endlich ist es der Umgang mit den Mitmenschen und mit der Natur, der dich als Mensch ausmacht: Es sollte das Ziel eines jeden sein, hier Vorreiter und Vorbild zu sein.

Herbert Ranggetiner - Profikletterer / Bild: Herbert Ranggetiner

Der Kletterprofi
HERBERT RANGGETINER, 48, aus Mühlbach im Pinzgau (S), ist Profi­kletterer und einer der besten ­Extremkletterer Europas. Mehr als 600 Lines wurden von ihm als Erstem durchstiegen.

In SPORTaktiv gibt Herbert regelmäßig einen Einblick in seine Welt. In seiner Serie „Kletterschule" (siehe hier) – und im Outdoorguide zusätzlich mit dem exklusiven Beitrag über die Begehung der „Heimspiel"-Route.



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