Läufe jenseits des Marathons nennt die Fachwelt „Ultra“. Meist schwärmen Ultraläufer aber von Herausforderungen, die jene eines Marathons sogar um ein Vielfaches überschreiten – und die ein Durchschnittsläufer als „völlig verrückt“ abhakt. Zwei Fragen, die sich da zwangsläufig aufdrängen: Warum tut man sich das an? Und: Hält ein Mensch sowas auf Dauer aus?


Hundert Kilometer nonstop durch die Wüste. 24 Stunden auf einem 2-km-Rundkurs immer im Kreis. Täglich einen Trailmarathon mit Tausenden Höhenmetern, das Ganze eine Woche am Stück ...

Der Fantasie beim „Erfinden“ von „unmenschlichen“ Laufevents sind keine Grenzen gesetzt und die zwar noch kleine, aber tatsächlich ständig wachsende Szene der Extremläufer/-innen nimmt die ihr gestellten Herausforderungen begeistert an.

Außenstehende schwanken dann zwischen Bewunderung und Skepsis – und dieser Zwiespalt kommt im Wort „verrückt“ am besten zum Ausdruck: Manchmal wird es sogar von Ultraläufern selbst verwendet, oder aber eben durchaus anerkennend von Kennern der Szene; „verrückt“ sagen aber vor allem Nichtsportler oder auch Läufer, deren Trainingsumfang gemeinhin als „normal“ angesehen wird – und meinen damit abschätzig: „Die sind doch wirklich nicht normal, machen sich mutwillig ihre Gesundheit kaputt.“

EINE GANZ NEUE WELT
Bevor wir uns aber dieser Gesundheitsfrage zuwenden, bleiben wir kurz bei der Motivation: Was ist eigentlich so erstrebenswert am Laufen extremer Distanzen und unter ebensolchen Bedingungen? Fragt man die Läufer selbst, bekommt man häufig Antworten wie: das Suchen nach den persönlichen Grenzen; das Gefühl, etwas Außergewöhnliches geleistet zu haben. Aber auch die Kameradschaft und die lockere Stimmung in der Ultraszene werden immer wieder betont. „Für mich war es ein Eintauchen in eine neue Welt“, erinnert sich Mario Schönherr, Veranstalter des Wörthersee Ultra Trails, an seinen ersten 72-Kilometer-Wüstenlauf. „Aus der typischen Läufergemeinde kommend traf ich plötzlich auf braungebrannte, etwas ältere Typen mit Rauschebärten, die eine unglaubliche Lockerheit ausstrahlten“.

Bei einem ähnlichen Wüstenrennen, dem „100 Kilometer del Sahara“, hat der Grazer Mentaltrainer Klaus Landauf Hobbysportler betreut – und dabei auch spezielle Stressbelastungsmessungen durchgeführt. Doch dazu später mehr – vorerst Landaufs fachliche, aber ganz allgemeine Einschätzung: „Wie bei jedem Extremsport sind solche Rennen für die Läufer zunächst ein Ausbruch aus dem Alltag. Ultralaufen hat auch sehr viel mit Wertschätzung zu tun. Mit jener für sich selbst, aber auch damit, wie man von der Umwelt wahrgenommen wird. Generell gilt: Wenn ich etwas Herausragendes tue und schaffe, was nur wenige zustande bringen, dann stärke ich mich selbst emotional.“ Wer bei einem solchen Rennen einmal live dabei ist, könne die starke emotionale Komponente sofort erkennen, erklärt Landauf weiter: „Diese Sportler weinen, lachen, sind völlig fertig – so starke Emotionen zu erleben, ist sicher auch für viele ein entscheidender Antrieb.“

Mario Schönherr bestätigt diesen Eindruck: „Nach Stunden oder Tagen mit Schmerzen, mit Blasen an den Füßen, mit der Ungewissheit, ob man es schafft oder nicht, kommt man ins Ziel. Und keiner fragt nach deiner Zeit, alle freuen sich mit dir – was kann es Schöneres geben? Und vieles, was man als Ultra läufer erlebt, kann man in den Alltag umlegen: Durchbeißen, nicht aufgeben, Rückschläge wegstecken, sich nicht unterkriegen lassen, ans Ziel gelangen – das sind Erfahrungen fürs Leben.“

ENTWARNUNG FÜRS HERZ
Bleibt als Einwand: Wenn man das Selbstbewusstsein stärkt, aber dabei seine Gesundheit ruiniert, kann das auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Immerhin ging vor zwei Jahren diese Schlagzeile durch die Fachmedien: „Studie bestätigt, dass Ultralaufen den Herzmuskel schädigt.“

Dr. Markus Thalmann, Herzchirurg und gleichzeitig einziger Österreicher, der jemals den 246 Kilometer langen „Spartathlon“ gewonnen hat, kann diese Meldung allerdings nicht bestätigen. Denn er hat selbst gemeinsam mit einer Kollegin Studien beim Spartathlon durchgeführt: „Eine Schädigung des Herzmuskels konnten wir dabei niemals feststellen. Zwar gibt es manchmal einen einzelnen, auffälligen Enzymwert – doch bei der Interpratation dieses Werts muss man sehr vorsichtig sein.“ Etwas anders schaut die Sache muskulär aus: „Anhand der Blutwerte lässt sich gut nachweisen, dass die Beinmuskulatur bei Extremläufen massiv leidet. Ein Gefäßpatient mit solchen Werten würde sofort in eine Klinik kommen.“ Ob sich daraus allerdings längerfristig Probleme ableiten ließen, darauf will sich der Mediziner keineswegs festlegen. „Auf jeden Fall aber müssen Belastung und Regenerationszeiten gut aufeinander abgestimmt sein.“


Video: Reportage über Ultra-Marathonläufer Philipp Reiter

GRÜNES LICHT VOM ARZT
Fest steht sicherlich: Ultraläufer müssen orthopädisch und internistisch absolut gesund sein, um sich nicht zu gefährden. Aber gerade das Verantwortungsgefühl für und das Wissen um den eigenen Körper sowie dessen Leistungsfähigkeit sehen unsere Experten Thalmann, Landauf und Schönherr bei den Ultraläufern überdurchschnittlich ausgeprägt. „Die paar schwarzen Schafe, die Ultraläufe mit mangelnder Vorbereitung ausprobieren, stoßen ohnehin schmerzhaft an ihre Grenzen“, weiß Markus Thalmann. Für viele Ultraläufe muss man auch Qualifikationsergebnisse nachweisen, sich also langsam an die großen Distanz herantasten. Noch ein Sicherheitsnetz also – das in der Form etwa beim Marathon nicht vorhanden ist ...

STOFFWECHSEL SETZT DAS LIMIT
Apropos Marathon: Wer jemals im Laufsport trainiert hat, kann sich in der Regel vorstellen, bei entsprechender Vorbereitung einen „42er“ zu laufen. Darüber hinaus endet bei den meisten die Vorstellungskraft. Diese Grenze zieht aber keineswegs der menschliche Körper – sie hat sich, wenn man so will, durch die populärste Langstreckendistanz im Kopf der laufenden Menschheit eingenistet. Eher noch gibt es eine klare Grenzziehung zwischen Halbmarathon (den man in der Regel rein mit den gespeicherten Kohlenhydraten absolvieren kann) und dem Marathon, wo man bereits einen guten trainierten Fettstoffwechsel benötigt.

Mediziner Markus Thalmann erklärt: „Beim Gesunden und gut Trainierten setzen weder das Herz-Kreislauf- noch das orthopädische System das Limit, sondern der Stoffwechsel – beim Marathon genauso wie bei Ultradistanzen: Je länger, desto besser muss der Fettstoffwechsel für die Energiegewinnung trainiert sein.“ Ein Beispiel: Über den Daumen gepeilt verbraucht man beim Spartathlon über 246 km 20.000 Kalorien – „die kann man unmöglich von außen zuführen. Es muss also ein erheblicher Teil aus den im Körper gespeicherten Fettreserven herangezogen werden.“

Ob es überhaupt eine Grenze gibt, wie lange ein Mensch laufen oder Sport betreiben kann? Das lasse sich nicht beantworten: „24-Stunden-Weltrekordler Yiannis Kouros lief auch schon 48 Stunden ohne relevante Pausen. Ein sehr gut Trainierter kann bei langsamem Tempo sogar regenerieren. Ein absolutes, körperliches Limit kann daher bestimmt niemand benennen“, sagt Markus Thalmann. Der übrigens beim Sparthathlon Ende September wieder dabei sein wird und einen Top-3-Platz anstrebt ...

BEIM WÜSTENRENNEN ERHOLT
Mentaltrainer Klaus Landauf hat, wie eingangs schon erwähnt, beim „100 km del Sahara“-Lauf an gut trainierten Hobbyathleten Stressbelastungsmessungen über die Herzratenvariabilität durchgeführt. Dieses Verfahren, das ursprünglich für die russisch-österreichische Weltraummission mit Franz Viehböck entwickelt wurde, setzt Landauf auch im Spitzensport ein – oder auch, um die Alltags-Stressbelastung für Manager festzustellen. „Die Gesamtbelastung bei diesem Wüstenlauf war überraschend gering, und bei einem der Probanden – er ist Vorstand eines italienischen Konzerns – sogar wesentlich geringer, als wir sie in seinem beruflichen Alltag gemessen haben.“ Überspitzt gesagt: Der Sportler und Manager hat sich beim Wüstenrennen erholt.

Auch Klaus Landauf ist daher überzeugt: Durch planmäßiges Vorgehen, das es schon benötigt, um solche Leistungen überhaupt erbringen zu können, leben die meisten Ultraläufer gesünder als das Gros der Gelegenheitsläufer, die ohne Plan und Regelmäßigkeit vor sich hin trainieren – und meistens viel zu schnell und mit zu hoher Intensität unterwegs seien. Es mag also sein, dass Ultraläufer „laufnarrisch“ sind. Verrückt sind die meisten sicher nicht: Sie wissen nämlich, was sie tun.


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