Hochalpines Bergsteigen gilt als Königsdisziplin des Bergsports. Nirgendwo anders kommt man dem Himmel näher. Es ist eine Mischung aus Wagnis, Wahnsinn und dem Wunder des Augenblicks, wenn man es auf die (Berg-)Spitze getrieben hat.


"Weil er da ist.“ Keiner hätte die rationale Sinnlosigkeit des Besteigens eines Berges glaubwürdiger erklären können als der britische Alpinist George Mallory. Das war der Mann, der vermutlich schon 1924, fast 30 Jahre vor Edmund Hillary, wirklich als erster Mensch auf dem Mount Everest-Gipfel gestanden ist. Tatsächlich gibt es keinen zwingenden Grund, sich über steile Gesteinswände, schroffe Überhänge oder gähnende Gletscherspalten in Richtung eines Gipfels zu quälen. Aber genau das macht einen der größten Reize des alpinen Bergsteigens aus: Man muss nicht hinauf – aber man kann. Aus dieser Möglichkeit leitet sich die zentrale Zauberformel „Ich will!“ ab, die sich wie ein mentales Fixseil durch die hochalpine Bergsteigerszene zieht.

Abseits von sprödem Sinn geht es um die sensible Sinnlichkeit des Abenteuers, in extremen Höhen unterwegs zu sein. „Reduziert auf das bloße Rauf-Runter-Heimgehen hat es keinen wirklichen Zweck. Sinnvoll ist es trotzdem, weil man seine Träume leben kann“, versucht Ralf Dujmovits, erster Deutscher auf allen vierzehn 8.000ern und Ehemann der österreichischen Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner, eine Erklärung.

Aber wie auch immer: Das hochalpine Bergsteigen bleibt ein gefährliches Unterfangen. „Der Berg verzeiht kein Missgeschick“, warnt Reinhard Dayer, der Bundesgeschäftsführer der Naturfreunde Österreich. „Anders als bei einem Computerspiel gibt es beim Bergsteigen eben keine ,Zurück an den Start‘-Taste, die Fehler ungeschehen machen könnte.“

VORSICHTIGES HERANTASTEN
Mangelhafte Planung, Selbstüberschätzung und Unwissen über Wetter- und Lawinenbedingungen erhöhen das Unfallrisiko enorm. Dazu kommt, dass sich beispielsweise die Gletscher in den vergangenen Jahren extrem verändert haben, das Begehen immer gefährlicher und unberechenbarer wird. Wenn sich Steigeisenzacken in senkrechtes Eis bohren, Haken in schmalen Ritzen verzahnen, Karabiner sich an Seile klammern und Fingerkuppen an schmalen Steinvorsprüngen kleben, sind Erschöpfung, Angst und Gefahr ganz nah. Zu wissen gibt es viel, und gerade beim Bergsteigen sollte man nicht versuchen aus Fehlern zu lernen.

„Man muss immer reflektieren: Geht sich das aus?“, sagt Extrembergsteigerin Kaltenbrunner. Sie selbst hat diese Frage mehrmals mit „Nein“ beantwortet. Der Verzicht als Basislager fürs eigene (Über-)Leben. Ein langsames Herantasten und ständiges Abgleichen von Können und Anforderungen durch ein „In-sich-Hineinhören“ ist ebenso unerlässlich wie ein gegenseitiges Beobachten der Gruppenmitglieder mit einer bei aller Kameradschaft notwendigen kritischen Distanz. „Umzukehren und abzusteigen ist eine der schwierigsten Entscheidungen in den Bergen“, bestätigt der ebenfalls 8000er erfahrene Hans Kammerlander: „Vielleicht die schwierigste überhaupt.“ Kein Wunder – den Antriebsstrang des Bergsteigens dominiert eigentlich nur eine Richtung: hinauf!

Und diese Parole ist in unseren Breiten offiziell verbrieft seit knapp über einem Vierteljahrtausend. Denn 1762 wagten sich erstmals frühe Alpinisten auf den 3.251 Meter hohen Großen Ankogel im Grenzgebiet zwischen Kärnten und Salzburg. Diese waghalsige Tour auf einen vergletscherten 3000er gilt als Geburtsstunde des hochalpinen Bergsteigens. Der Mont Blanc wird 1786 erstmals bestiegen, der Großglockner im Jahr 1800.

Mit der in den Folgejahren rasch wachsenden Zahl an Menschen, die es in die meist unwirtlichen hochalpinen Zonen, auf Grate und Gipfel zieht, klettert auch die professionelle Kommerzialisierung die Steilwände hinauf. Und es ist ein weiterhin boomender Markt – natürlich auch zur Freude der Ausrüster: Allein der Umsatz der Outdoorbekleidungsindustrie betrug 2011 europaweit zehn Milliarden Euro!

Die steigende Nachfrage nach Topmaterial wirkt aber auch als Innovationstreiber für die Hersteller. Es gilt in abgewandelter Form das olympische Motto „Citius, altius, fortius“: In immer schnellerer Abfolge werden höhere Ansprüche an das qualitativ immer besser werdende Material gestellt. Und das nicht zum Schaden der damit ausgerüsteten Bergsportler: Die Materialien werden leichter, widerstandsfähiger und multifunktionaler.

So ist aus dem Bergsteigen ein Mix aus der archaischen Konfrontation von „Mensch und Natur“, einer gefinkelten Hightech-Industrie und einer lukrativen Tourismuswirtschaft geworden, in dem viele und vieles Platz hat. Nur die Frage nach dem „Warum“ nicht. Bergsteigen bleibt Abenteuer, bleibt Sehnsucht, bleibt Lust und Lebenselixier – und entzieht sich damit der normalen Rationalität und ihren Bewertungskriterien.


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