Im Sport liegen zwischen Theorie und Praxis oft Welten. Das schießt einem ziemlich schnell ein, wenn man sich mit Österreichs Biathlon-Elite unter der Anleitung von Bundestrainer Ricco Groß zu einer Trainings-Session trifft.
So, dann wollen wir dich mal schön langsam aus der Komfortzone herausholen.“ Ich hab zwar keine Ahnung, von welcher Komfortzone Ricco Groß spricht, schließlich hat er mich schon ein paar Mal zum Laufen um den Schießstand geschickt. Aber er wird schon einen Plan haben, schließlich war der 49-Jährige selbst ein hochdekorierter Biathlet, gewann unter deutscher Flagge insgesamt vier olympische Goldmedaillen, wurde neunmal Weltmeister und soll als Bundestrainer der österreichischen Biathleten Julian Eberhard, Simon Eder & Co. in der Erfolgsspur halten. „Ich dachte, du wolltest wissen, wie es sich für einen Biathleten am Schießstand anfühlt. Dafür müssen wir deinen Puls schon noch ordentlich in die Höhe treiben.“
Wer Biathlon so wie ich nur als Couch-Potatoe vor dem Fernseher betrieben hat, kommt beim Reality-Check schnell drauf, dass es eine Sportart der allgemeinen Irrtümer ist. Es ist zum Beispiel kein Ziel der Sportler, den Puls beim Schießen so schnell wie möglich runterzubringen. „Das wäre in den knapp 30 Sekunden, die jemand am Schießstand steht, auch gar nicht möglich“, erzählt Groß. „Es geht darum, die Belastung so zu kontrollieren, dass man trotz 165 Schlägen ins Schwarze trifft.“ Und zwar so konstant, dass man eine Trefferquote jenseits der 80 Prozent hinbekommt, sonst geht sich das mit der Weltspitze nur schwer aus.
Mit der habe ich ohnehin nichts am Hut, als ich mich im Oktober für ein Training mit Österreichs Lauf- und Schießelite treffe. Am Anfang soll ich nur zuschauen, wie Felix Leitner, Lisa Hauser oder Simon Eder auf ihren Rollski um den Parcours in Hochfilzen hetzen und anschließend auf die Scheiben schießen, die beim Liegendanschlag einen Durchmesser von 4,5, im Stehen einen Durchmesser von 11,5 Zentimeter haben. „Merk dir die Beinstellung und wo sie ihr Gewehr ansetzen“, sagt der Coach. „Als Rechtshänder soll dein rechtes Bein mit Oberkörper und Gewehr eine gerade Achse bilden.“ Aus reiner Neugier wage ich einen Blick durch das Fernrohr, das hinter den Athleten postiert ist und mit dem der Bundestrainer jeden Einschlag genau orten kann. Und kommentiert, was dann so ähnlich klingt wie ein Zahnarztbesuch. „Treffer 9 oben rechts, Fehlschuss 7 unten links.“
Bevor wir uns um meinen Puls kümmern, soll ich ohne Belastung ein paar Schüsse im Liegen wagen, um mich an das Gewehr zu gewöhnen, schlägt Groß vor. Und zwar als Trockenübung, ohne Munition. „Nicht vergessen: Es handelt sich dabei um eine tödliche Waffe, also hat die Sicherheit oberste Priorität.“ Dass das ein weiser Gedanke ist, wird mir spätestens bewusst, als Groß mich fragt, auf welche Scheiben ich gerade ziele. „Nummer acht“, sage ich. „Und auf welcher Bahn liegst du?“ „Ähem, Nummer fünf.“ Ein Fauxpas, der darin begründet liegt, dass man sich erst daran gewöhnen muss, wie man durch das Visier schaut. Also macht der Coach eine Zeichnung (s. Faksimile), mit der das Prozedere veranschaulicht werden soll. „Du schaust durch den Diopter und zielst, bis das Zentrum der Scheibe in der Mitte des Rings ist, der vorne am Lauf des Gewehres steht.“ Und dann: Peng!
Blöd nur, dass man es immer nur für Sekundenbruchteile schafft, das 50 Meter entfernte Ziel erfolgversprechend zu fixieren. Aber dafür ist er ja da, der Bundestrainer, denn da haben die Biathleten so ihre Tricks. Denn: Es braucht einen Druck von 500 Gramm, um den Schuss auszulösen, „und am besten du gibst beim Zielen schon mal 400 Gramm auf den Abzug. Dann reicht eine minimale Bewegung, um zu schießen.“ Super Idee, bei der ohne Vorübung natürlich gleich mal ein Schuss losgeht, noch bevor die Scheibe auch nur im Ansatz anvisiert wurde. „Der Schuss wäre wohl nach hinten losgegangen“, witzelt Julian Eberhard im Hintergrund.
Zeit, die Waffe scharf zu machen, denn Biathlon ohne lautes Knallen ist wie Formel 1 ohne Motordröhnen. Vier Magazine mit je fünf Patronen hängen am Lauf des Gewehres, eines davon wird jetzt hineingeschoben. Mit dem rechten Zeigefinger wird das Gewehr geladen, mit dem Daumen entsichert, ein Vorgang, der sich bei jedem einzelnen Schuss wiederholt. „Jetzt ist die Waffe schussbereit – Feuer frei!“ Meine erste Serie an einem Biathlon-Schießstand, und während ich noch bedauere, dass ich auf den so stilprägenden Jubel von den Tribünen verzichten muss, fliegen mir die Kommentare des Trainers um die Ohren. „Rechts vorbei! Knapp links daneben! Wieder rechts! Zu weit unten! Keine Ahnung, wo der gelandet ist!“ Da Biathlon anscheinend ein Sport der Schmähbrüder ist, höre ich aus dem Off: „Da drüben im Wald ist doch eben noch ein Hirsch gestanden, oder?“
Mein Ehrgeiz ist jedenfalls geweckt, und siehe da: Bei der dritten Serie gelingen mir mit den ersten drei Schüssen ebenso viele Treffer. „Wenn das ein Nuller wird, bist du für den Weltcup-Auftakt nominiert“, sagt Groß. Klar, ein Witz. Der aber trotzdem dazu führt, dass mich der steigende Ehrgeiz nervös macht und ich zwei Nieten schieße. „Genau das ist der Reiz dieser Sportart“, baut mich Groß auf. „Du kannst ein tolles Rennen abliefern, alles richtig machen. Und wenn du beim letzten Schuss die Nerven wegschmeißt, sagen alle: Der Depp wurde wieder nur Zwölfter.“ Hart, aber ungerecht, denn die Leistungsdichte bei den Loipenjägern ist enorm, zwischen Stockerl und „unter ferner liefen“ ist der Grat verdammt schmal.
Ich bin trotzdem stolz auf meine drei Treffer, was Groß zum Anlass nimmt, sich der Erhöhung meiner Pulsfrequenz anzunehmen. Mich auf Skirollern durch die Asphaltloipe zu schicken ist ihm dann doch zu riskant, also bewege ich mich auf Schusters Rappen durch die grüne Anlage. Und auch ohne Gewehr, das wollte der Bundestrainer dann doch lieber im Auge behalten. Außerdem führt das Ab- und Aufschnallen zu einer eindeutigen Verschärfung, zumindest, wenn der Faktor Zeit eine Rolle spielen soll. „Wenn man am Schießstand ankommt, sollte man nach maximal zehn Sekunden bereit sein und nach maximal 13 Sekunden den ersten Schuss abfeuern“, erklärt Groß.
Fairererweise gibt er mir einen Tipp mit auf den Weg, wie ich das mit der Konzentration unter Belastung hinbekommen kann. Der Schlüssel liegt dabei in der Atemtechnik. Das Handling, nachdem das Gewehr angesetzt wurde: Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Und nach zwei Dritteln des dritten Ausatmens stoppen, zielen und ab in die Mitte. Hilft wirklich, und dennoch ist es die ganz hohe Kunst, den Finger am Abzug genau in dem minimalen Zeitfenster zu bewegen, in dem das Gewehr richtig steht. Zumal die linke Hand, mit der die Waffe stabilisiert wird, immer zittriger wird. „Jetzt bin ich aber beruhigt“, sagt Groß, nachdem mir trotz Windstille ein Nuller von der Hand gegangen ist. Also eine Serie mit null Treffern, wohlgemerkt. „Wäre es anders gewesen, könnten wir uns das ganze Training ja sparen.“
Weltcup-Termine 2019/20
Datum Ort
30.11. – 08.12.2019 Östersund (SWE)
13.12. – 15.12.2019 Hochfilzen (AUT)
19.12. – 22.12.2019 Le Grand-Bornand (FRA)
09.01. – 12.01.2020 Oberhof (GER)
15.01. – 19.01.2020 Ruhpolding (GER)
23.01. – 26.01.2020 Pokljuka (SLO)
13.02. – 23.02.2020 WM in Antholz (ITA)
05.03. – 08.03.2020 Nové Mesto (CZE)
12.03. – 15.03.2020 Kontiolahti (FIN)
20.03. – 22.03.2020 Oslo (NOR)