Klaus Molidor
Klaus Molidor

Das Schicksal hat Erich Artner zwei Beine gestellt. Er stand an der Grenze zum Jenseits und verlor beide Unterschenkel. Heute ist er Ironman-Finisher und ein „Sportler mit Herz", der für andere in die Pedale tritt und mit seiner Energie ansteckt.


Waterhouse-Friedrichsen. So beginnt die Geschichte von Erich Artner, dem Hobbysportler. Wir schreiben das Jahr 1989. In Berlin ist gerade die Mauer gefallen und Osten und Westen wachsen wieder zusammen. Im Westen Wiens wächst ein junges Handballtalent heran. Erich Artner. Jung, fit, ambitioniert. Der Sport ist sein Leben. Bis zum 18. Dezember. Die vermeintliche Verkühlung verschlimmert sich plötzlich. Erst im zweiten Krankenhaus erkennen die Ärzte den Ernst der Lage. „Im Wilhelminenspital war gerade Weihnachtsfeier und darum waren alle Ärzte anwesend", erzählt Artner. „Der Primar hat die seltene Krankheit erkannt." Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom. Was mit einer bakteriellen Infektion beginnt, endet in schweren Thrombosen. Unbehandelt stirbt daran jeder. Artners Überlebenschancen: 2 Prozent. Es folgen: zehn Tage künstlicher Tiefschlaf, Operationen, Operationen, Operationen. Er überlebt. Ohne Gehirnschäden, aber auch ohne Unterschenkel, die beide amputiert werden müssen.

DER SPORT ALS ANKER
„Der Sport hat mir das Leben gerettet", sagt er heute ganz entspannt und nippt an seinem Espresso. „Wäre ich damals nicht so fit gewesen, hätte ich das nicht überlebt." Und der Sport war es auch, der es ihm ermöglicht hat, gar nie in ein Loch zu fallen, zu hadern, depressiv zu werden. „Die Handballkollegen haben mich gefördert und gefordert." Auf das Turnier in Schweden – auf das er sich in den Tagen vor dem Einschnitt so gefreut hatte, nehmen sie ihn mit. Wenn er nicht mehr gehen kann, tragen sie ihn. 18 Jahre später ist aus dem jungen Handballer ein leidenschaftlicher Ausdauersportler geworden. Nach einer Karriere im Rollstuhlbasketball samt EM-Teilnahme in den Niederlanden wird er über Jugendfreund und Ö3-Mikromann Tom Walek auf Triathlon aufmerksam. „Da wusste ich: Ich will einen Ironman finishen." Und die Beschäftigung mit Schwimmen, Radfahren und Laufen gibt seinem Leben auch eine entscheidende Wende. Er kann sich nicht nur auspowern – „Das brauche ich einfach" – viel wichtiger: Artner bekommt Selbstvertrauen. Hatte er sich früher geniert, am Badeteich mit Prothesen ins Wasser zu steigen, trägt er sie heute mit Stolz. „In der Wechselzone beim Triathlon haben mich Leute angeredet und gemeint, wie stark sie das finden, was ich mache." Früher hat er Menschen gemieden, wenn er mit seinen futuristischen Laufprothesen unterwegs war, heute spornt ihn das an.

Und der Moment, als klar war: die Unterschenkel sind weg. Hat ihn der, als 15-Jährigen, nicht aus der Bahn geworfen? „In einem Alter, in dem Mädels interessant werden, war das natürlich nicht cool. Vor allem hab ich mich aber darüber geärgert, dass ich nicht mehr Handball spielen kann. Ich hab sechsmal die Woche trainiert. Das war mein Leben." Erst nach und nach dämmert ihm, dass er großes Glück hatte. „Ich hätte auch Gehirnschäden haben können und meine Hände hätte ich auch verlieren können." Alles noch dran und voll im Einsatz. Dem Ironman in Klagenfurt folgten weitere, dazu der Ötztaler Radmarathon und immer wieder Charity-Fahrten mit dem Fahrrad. Für den guten Zweck ist er mit einer Gruppe von Wien nach Rom geradelt, 2017 von Wien nach Barcelona. Helfen, andere mitreißen, ihnen zeigen, dass immer noch etwas geht, auch das treibt ihn an. Bei der Sportlergala 2017 wird er als „Sportler mit Herz" ausgezeichnet. In den Tagen danach spricht ihn eine Dame auf seiner morgendlichen Laufrunde an und gratuliert ihm. Immer wieder begegnen sich die beiden. „Vor Kurzem erzählt sie mir, dass sie eine kaputte Hüfte hatte und wegen mir wieder mit dem Nordic Walking begonnen hat."

„WENN DU WILLST, GEHT ALLES"
Frei von der Leber weg erzählt er von seinen schweren Stunden. Keine Bitterkeit schwingt in seiner Stimme mit. Er kann Witzchen reißen über diese Zeit, aber er muss es nicht. Seine Unverkrampftheit dem Thema gegenüber ist nicht gespielt. Laufen ist das, wo er am stärksten ist. „Beim Radeln bringe ich nicht so viel Druck aufs Pedal wie mit Beinen und beim Schwimmen sind die Prothesen im Wasser eher hinderlich. Dafür kann ich ohne Hilfe aus dem See steigen." Dabei ist Laufen für ihn auch am anstrengendsten. „Die Prothesen halten gut am Stumpf, aber nach zwei, drei, vier Stunden werden sie eben ein bissl lockerer", erzählt er. Und er hat Probleme, mit denen sich andere nicht herumschlagen müssen. „Kopfsteinpflaster oder Schlaglöcher. Was bei dir der Fuß ausgleicht, ohne dass du nachdenken musst, ist für mich ein Problem. Da muss ich extrem konzentriert sein und schauen, wo ich hintrete, damit ich nicht umkippe."

Nicht umkippen – das passt auf Erich Artner ganz gut. Er hat sich vom Verlust seiner Unterschenkel nicht aus dem Leben kippen lassen. Natürlich, ganz ohne Hadern, ohne Groll, ohne Fragen: „Warum ich?" ist es nicht gegangen. Aber die Gemeinschaft der Handballer und der Sport haben ihn aufgefangen. Und wenn er heute die Chance hätte, seine Unterschenkel wiederzubekommen? „Würde ich wahrscheinlich Nein sagen." Herausforderungen hat er in diesem Jahr auch so genug. Marathon in Wien und Kiew, Ironman in Klagenfurt und zwei Half-Ironmen in St. Pölten und Zell am See. Sein Beruf als Versicherungskaufmann, seine zwei Töchter, Sport – ein zeitlicher Drahtseilakt. „Wenn du willst, bringst du alles unter. Ich fahr halt von Seminaren stundenlang mit dem Rennrad heim und nicht mit dem Auto." Sport wird ein großer Teil seines Lebens bleiben. Auch wenn es nicht mehr Handball ist. „Aber mit meinem Captain von damals will ich den ,Two-Oceans-Marathon' in Südafrika laufen." Ein 56-Kilometer-Lauf vom Atlantik bis zum Indischen Ozean. „Er ziert sich noch ein bisschen. Aber das machen wir sicher", sagt Artner und lacht schallend. Der Mann ist mit sich im Reinen und ein Musterbeispiel dafür, was Sport und ein Ziel vor Augen ausmachen können. Beim Abschied dreht er sich noch einmal um. „Es gibt einen Moment, an dem ich meine Beine gerne hätte", entfährt es ihm. „Am Berg, bei einem Tiefschneehang. Da denk ich mir: Jetzt mit Beinen volles Rohr runterheizen. Aber das war es dann auch schon."