Die Zeit ist vorbei, als sich nur echte Abenteuer im Taucheranzug durch spektakuläre Felseinschnitte hantelten. Der Trendsport ­Canyoning entwickelte sich über die Jahre zur Attraktion für eine immer breitere Zielgruppe.

Von Florian Madl


Nicht hinunterschauen, ordentlich wegschwingen, sonst hängt ihr mittendrin. Just do it!" Das Abseilen durch einen Wasserfall verlangt der achtköpfigen Schülergruppe eines Innsbrucker Gymnasiums alles ab, da kann der sympathische Canyoning-Guide noch so sehr die Jugendsprache bemühen. Für den Mitzwanziger, im Winter Skilehrer und während der Sommermonate in den Schluchten des Tiroler Pillerseetals unterwegs, ist es Alltag. Für die in Neopren gezwängten Teenager, die während ihrer Sportwoche dem Klassenzimmer entfliehen und auf der Suche nach Herausforderungen sind, Abenteuer genug.

Das wiegt so manches Erlebnis im Sportunterricht auf und sollte am Abend des letzten Tags mit dem Attribut „unglaublich" bedacht werden. Selbst der sportlich versierte Lehrer erweckt in der Gischt des kalten Wildbachs nicht den Anschein, als sei er über Selbstzweifel erhaben, sein Gesicht signalisiert das jedenfalls. Also: nicht hinunterschauen, ordentlich wegschwingen, nicht im Wasserstrahl hängen. Cool, so ein Canyoning-Abenteuer!

DIE EIGENEN GRENZEN AUSLOTEN
Nach Erlebnissen wie diesen verlangt der Zeitgeist, dabei gibt es den Trend schon lange. Aber die Outdoorszene kennt dieses Umstyling hinlänglich: Aus sportlich ambitioniertem Wandern wurde „Nordic Walking", aus Geländelaufen „Trailrunning". Und früher hieß es mancherorts auch „Schluchteln", doch das war einmal. Jetzt heißt es selbst im Volksmund schon „Canyoning", weil sich Anglizismen in einer kommerzialisierten Welt offenbar besser machen.

Dass sich aus der Eroberung von naturgegebenen Einschnitten und eiskalten Bächen ein Geschäftszweig entwickeln würde, war jedoch nicht absehbar. Doch es hat durchaus seinen Reiz, sich diesem Wechselspiel mit der Natur hinzugeben, dem bisweilen mutigen Sich-Herantasten an die eigenen Grenzen und die der Physik. In einer zivilisierten Welt muss schließlich kein Wasserlauf durchstiegen und keine Felskante mittels Seil bewältigt werden. Die Zuhilfenahme eines Lifts ist in dieser Dimension der Natur unmöglich, lediglich Klettern, Schwimmen, Springen, sogar Rutschen tragen zur Bewältigung von Geländeerhebungen bei.

Was früher lediglich das Hobby einer kleinen Szene Unentwegter war, gehört mittlerweile zur Sommersportwoche bei Outdoor-Anbietern wie das Lagerfeuer oder die Schnitzeljagd. „Mittlerweile lukrieren wir zehn Prozent unseres Umsatzes und mehr aus dem Bereich Canyoning", erzählt Christoph Schaaf, ein Outdoor-Anbieter aus dem Salzburger Lammertal. Seine jungen Gäste würden dieses Abenteuer lieben, ebenso Reisegruppen oder die Teilnehmer eines Firmenausflugs.

WER DARF ES ANBIETEN?
Beim Tiroler Alexander Riml heißt der Sport immer noch Schluchtenführen. Das hat damit zu tun, dass der Ötztaler im Tiroler Bergsportführerverband einen deutschen Namen verwenden muss und der Experte als Referent und Ausbildungsleiter selbst über die Einhaltung der Bestimmungen wacht. „Tirol war ein Vorreiter", blickt der 47-Jährige, seit über 20 Jahren in kalten Bächen und auf glitschigen Felsen unterwegs, zurück. Kommerzielles Führen von Touren wurde angesichts der hohen Nachfrage durch die Landesregierung gesetzlich geregelt. In Salzburg, Kärnten und Oberösterreich sei man dem Bundesland in den gesetzlichen Bestimmungen fast aufs Wort gefolgt.

Und der Bedarf erklärt das hinlänglich: Allein die Auerklamm in Rimls engerer Ötztaler Heimat wird zwischen den Monaten Mai und September groben Schätzungen zufolge von 30.000 Gästen besucht. Eine Verletzung pro Woche, zumeist an Arm oder Bein und durchs Ausrutschen verursacht, könne man im Schnitt feststellen. Geschätzte fünf oder sechs Todesfälle hätten sich hier in den vergangenen zehn Jahren ereignet – statistisch betrachtet ein akzeptabler Wert. „In Frankreich passiert um einiges mehr, dort ist das Begehen von Schluchten geradezu Volkssport", führt Riml das auf den hohen Sicherheitsstandard in Österreich zurück.

Hier würden einen erst über 20 Praxistage und zusätzlich knapp 25 Ausbildungstage als offiziell anerkannten Schluchtenführer legitimieren, bis zu 2.500 Euro müssten die Kurs­teilnehmer dafür veranschlagen. Nur wer sich hinlänglich in die Geheimnisse von Sackstich, Achterknoten, Halbmastwurf, Prusikknoten, Reihenverankerung und „Piranha" (Abseilachter) einführen ließ, kann sichere Touren garantieren. Und eine Fortbildungspflicht verhindere überaltete Methodik, zumindest alle vier Jahre müsse man sich im Sinne einer Berechtigung einer Fortbildung unterziehen. Ohne Ausweis – den sich Interessenten eines Canyoning-Ausflugs übrigens tunlichst zeigen lassen sollten – wäre das Führen einer Gruppe nicht zulässig.

Verdienen lasse sich je nach Gruppengröße, Länge und Schwierigkeitsgrad der Tour. Gäste, darunter auch wenig trittsichere Einmalkunden, legen von € 60,– aufwärts auf den Tisch, um in den Genuss eines Canyoning-Ausflugs zu kommen. Angesichts des Risikos für die Führer und der Kosten des Materials (Neopren, Helm, Sicherheitsutensilien etc.) ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis.

HELI-CANYONING
Alexander Riml antwortet auf die Frage, wo denn ein Canyoning-Freund in seinem Leben gewesen sein müsste, unvermittelt: „In den Alpentälern, also bei uns." Schön sei es natürlich auch in Frankreich und Spanien, vor allem aber im Tessin (Schweiz). Dort wird sogar Heli-Canyoning für knapp € 400,– angeboten. In der Schweiz ereignete sich am 27. Juli 1999 auch das wohl größte Canyoning-Unglück. 45 Touristen stiegen damals mit acht Guides in den Saxetbach im Berner Oberland. Doch am Beginn des für eineinhalb Stunden angesetzten Abenteuers regnete es für einige Minuten, der Wasserpegel stieg leicht an. Plötzlich überraschte eine Flutwelle aus Wasser, Holz und Steinen die Gruppe, 21 Menschen kamen ums Leben.

Seit damals änderte sich viel in der Szene, mittlerweile verfügen auch Schluchtenführer über eine Art „Lawinenwarndienst". Mithilfe von Unternehmern, Bergsportführerverband, Polizei und Bergrettung wurden Standards erarbeitet, um Ereignisse wie dieses zu verhindern. Mittlerweile seien auch die Techniken zur Begehung der Canyons, die Qualität des Materials und die professionelle Herangehensweise eine andere als noch vor einigen Jahren. Selbst eine Tabelle mit Schwierigkeitsgraden wurde erarbeitet, um über Anhaltspunkte zu verfügen, doch die hält Experte Riml nur bedingt für hilfreich: „Die Schwierigkeitsgrade orientieren sich am Mindestwasserstand, diese Tabelle spiegelt die Situation kaum entsprechend wider."

An der Faszination für den Sport hat sich indes nichts geändert. „An Stellen kommen, die kaum jemand zu Gesicht bekommen hat", nennt Anbieter und Guide Christoph Schaaf einen der Hauptbeweggründe seiner Kunden. Hier sei nichts künstlich, die Kulisse an sich ein Naturschauspiel. Und der physiologische Anspruch – Ausdauertraining, Anregung des Herz-Kreislauf-Systems durch kaltes Wasser sowie koordinatives Training – ein positiver Nebeneffekt. Am besten also probieren. Selbst auf die Gefahr hin, dass man mittendrin hängt im Wasserfall. Auch das gehört manchmal dazu.


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