Perspektivenlos der Job, mäßig zufriedenstellend das Privatleben, der 30. Geburtstag mahnend nahe.“ So beschreibt der Steirer Bernhard heute rückblickend sein Befinden zu der Zeit, in der er beschlossen hatte, sich eine berufliche „Auszeit“ zu gönnen und als Teil dieser Auszeit 800 Kilometer von St. Jean-Pied-de-Port in Frankreich auf dem berühmten Jakobsweg nach Santiago de Compostela (Spanien) zu wandern.

In knapp vier Wochen zog der marathongeeichte Hobby­sportler seinen Pilgermarsch durch – eine Zeit, in der er durchaus auch körperlich an Grenzen stieß: Mit dicken Blasen an den Füßen trotzdem täglich in die Wanderschuhe zu schlüpfen und die optimistisch bemessenen Tagesstrecken von durchschnittlich 30 Kilometern Länge hinter sich zu bringen, dazu gehörte auch eine große Portion Selbstdisziplin.

Dafür entschädigten den Steirer die ständig wechselnden Landschaften („mal geht man durchs Gebirge, dann wieder kommt man durch Ortschaften oder sogar durch größere Städte“). Oder die vielen Bekanntschaften mit interessanten Menschen aus allen möglichen Ländern. „Sogar einen Brasilianer auf Sinnsuche lernte ich dort in Spanien kennen“. Manchmal bildete man kleinere Marschgemeinschaften, die ein paar Tage andauerten, dann verabschiedete man sich wieder voneinander.

Vor allem aber hatte Bernhard Zeit, sich in diesen Wochen mit sich selbst und mit seiner „Rolle“ im Leben zu beschäftigen. Heute sieht er das als das alles Entscheidende an: „Zwar würde ich nicht behaupten, dass ich mich schon damals auf der Wanderung endgültig entschlossen habe, mein Leben völlig umzukrempeln, aber ich hatte endlich die Zeit, um Ideen, die mir im Kopf herumschwirrten, genau durchzudenken. Das wäre im Alltag so sicher nie gegangen.“

Bald nach der Rückkehr machte der Steirer tatsächlich reinen Tisch!

Er ­kündigte den sicheren, aber ungeliebten Job und machte sich an eine Ausbildung im Sozialbereich, um beruflich endlich das tun zu können, was er heute als „sinnerfüllt“ empfindet.

Ein klassisches Pilgerschicksal? Mag sein. Fast jede und jeder, mit denen der Pilger auf seiner Tour ins Gespräch kam, hatte neben dem Rucksack irgendwie auch ein ganz persönliches „Packerl“ zu tragen. Sprich: Die berühmte Suche nach dem bisserl mehr an Sinn im Leben.

Eine Pilgerwanderung gilt nicht zuletzt, besonders wenn sie sich über mehrere Wochen bis sogar Monate erstreckt, in der Regel ja auch als von der Gesellschaft (und auch von Arbeitgebern) akzeptiertes „Aussteigen auf Zeit“. Und auch mit einer Psychotherapie wird ein Pilgermarsch mitunter verglichen. Nach dem Motto: „Schon der Entschluss dazu hilft.“ Dass man dann, wenn man täglich mehrere Stunden marschiert, irgendwann mit den Gedanken unweigerlich bei sich selbst und seiner persönlichen Situation landet, ist die natürliche und sogar wünschenswerte Folge, wie auch psychologisch geschulte Menschen bestätigen.

140.000 auf dem Jakobsweg

Und doch ist das wieder nur ein Teil der Wahrheit: Denn die Arten des Pilgerns sind so vielfältig wie die Pilgerzahlen groß sind. Ihre Wege können kurz oder weit sein, ein religiöses Motiv oder eine andere klare Motivation kann dahinterstecken – oder eben auch nicht. Aber bei all diesen Differenzen steht außer Zweifel, dass diese uralte, besondere Form des Wanderns heutzutage wieder einmal eine Renaissance erlebt. 140.000 Menschen marschierten im Vorjahr allein in den europäischen Paradepilgerort Santiago de Compostela. Heuer werden (weil 2010 ein „Jakobusjahr“ ist) noch um einige Zehntausend mehr erwartet. Und auch die heimischen Pilgerziele, wie Mariazell oder Gurk, erfreuen sich eines regen Zulaufs eifriger Marschierer.

Wenn wir schon von Zielen sprechen: Pilgerziele zu finden, ist nicht schwer – und es muss sich auch niemand an die absoluten Klassiker unter den Wegen halten. Österreich ist, wie ganz Europa, durchzogen von einem weitläufigen Netz an gut markierten Pilgerwegen und ständig kommen neue ausgewiesene Strecken dazu. Viele, gut aufbereitete Informationen findet man in eigener Fachliteratur oder auch im Internet (z. B. auf den Homepages www.pilgerwege.at oder
www.jakobusgemeinschaft.at).

Modeerscheinung oder mehr?

Doch noch einmal zurück zur Motivation, die die Pilger antreibt: Fritz Käfer, der Vorsitzende der „Sektion Weitwandern“ im Österreichischen Alpenverein und Autor zweier Bücher über „Pilgerwege nach Mariazell“, vermutet, dass es derzeit einfach auch schick ist, „auf einem der Pilgerwege unterwegs zu sein, weil es auch viele Prominente taten und tun.“

Beispiele? Paulo Coelhos und Hape Kerkelings literarische Berichte über ihre Erfahrungen auf dem Jakobsweg wurden zu Bestsellern. Auch Rolling Stone Mick Jagger gehört zu jenen, die den berühmtesten Pilgerpfad medien­wirksam beschritten haben.

Allen Promi-Vorbildern und Modeströmungen zum Trotz, sieht aber auch Käfer die „innere Einkehr“ und die „Selbstfindung“ als nach wie vor bestimmende ­Motive, warum immer mehr Menschen Pilgerwege beschreiten.

Für sich persönlich sieht der mittlerweile 70-jährige Fritz Käfer, der zeit seines Lebens dem Gehen weiter Wege verfallen ist und dabei fast immer mit Gattin Erika unterwegs ist, keine gravierenden Unterschiede zwischen einem Pilgermarsch und einer „gewöhnlichen“ Weitwanderung. „Man fühlt beim monotonen Gehen durch weite Landschaften, wie einen eine innere Ruhe und Zufriedenheit erfassen. Und man merkt, wie wenig der Mensch eigentlich zum Leben braucht. Daneben fasziniert uns immer wieder, wie viele Menschen und unterschiedliche Kulturen man beim Weitwandern kennenlernen kann.“ Lediglich das Ankommen im Pilgerziel habe, im Gegensatz zum Ende einer herkömmlichen Weitwanderung, „schon eine andere Dimension.“