Schweden also. Das macht verdächtig. Zu einer Jahreszeit, in der halb Österreich an diversen Mittelmeerstränden brutzelt oder - wenn schon Wandern - durch die heimischen Alpen stapft, sich ausgerechnet eine Gegend hoch über dem Polarkreis mit fast todsicherer Regengarantie, zumindest aber ungemütlichen Herbsttemperaturen als Abenteuerkulisse auszusuchen: Da kann doch etwas nicht stimmen.
Stimmt! Die Vorurteile selbst sind es, die falsch sind. Wenn man Glück hat. Dann nämlich präsentiert sich auch der hohe Norden wie ein tiefsommerliches Erholungsparadies. Temperaturen um die 25 Grad-Marke, stahlblauer Himmel, knallgrüne Moospolster in kristallklaren Gletscherbächen und schier endlose Weite.
Ziemlich kitschig, das alles. Ziemlich perfekt für eine Trekkingtour auf einem der traditionsreichsten Weitwanderwege Lapplands. Der Kungsleden („Königspfad") wird an seinem nördlichen Ende ein Mal im Jahr zur Veranstaltungsbühne. „Fjällräven Classic" nennt sich das Event des gleichnamigen schwedischen Outdoor-Ausrüsters, bei dem die Teilnehmer auf eine 105 Kilometer lange Tour von Kiruna quer durch die skandinavische Wildnis bis nach Abisko losgelassen werden.

Sinnschärfende Einsamkeit

Das Starterfeld ist auf 2.000 Plätze limitiert. Das klingt überlaufener als es ist.
Zum einen, weil das Feld auf mehrere Startblöcke und auf drei Tage verteilt wird. Zum anderen, weil die praktisch unbesiedelte Gegend ausreichend Platz zum Ausbreiten bietet; und zum Dritten, weil sich auch innerhalb einer Startgruppe schnell ein gewisser Ziehharmonika-Effekt einstellt. Die Karawane dröselt sich schon in den ersten Stunden großzügig auf und wird sich erst vor der Schlussetappe fünf Tage später wieder etwas zusammenschieben.
Dazwischen? Kann man fast sakrale Ruhe und sinnschärfende Einsamkeit in einer atemberaubenden Naturarena­ genießen. Wenn man will. Man kann sich aber auch beim Sammelpunkt am Campingplatz von Kiruna oder später auf den Tagesetappen mit Zufallsbekanntschaften aus knapp 20 Nationen zusammentun und ein Stück des Weges gemeinsam absolvieren.
Man kann seine Stammtischrunde mitbringen oder seinen Hund. Man kann die Strecke nonstop laufend in weniger als 24 Stunden hinter sich bringen (ja, auch dafür finden sich jedes Jahr ein paar Extremisten), oder eine ganze Woche brauchen. Man kann, wie man will.
Das Regelhandbuch des „Classic" ist sympathisch dünn: Einzig ein paar Ausrüstungsgegenstände sind obligatorisch (u.a. Kompass, Karte), Müll darf nur im eigens ausgegebenen Sackerl landen, die wenigen Hütten entlang der Strecke sind nur im Notfall zu benützen und sechs Checkpoints müssen passiert werden, um es am Ende in die offizielle Finisher-Liste zu schaffen und die goldene Anstecknadel überreicht zu bekommen.
In Sachen Unterkunft (Zelt) und Verpflegung (Campingkocher) ist man Selbstversorger und damit sein eigener Sherpa. Umso mehr gilt: je weniger Gepäck, desto mehr Gehkomfort. Wobei einfach aufkochbare Outdoor-Fertiggerichte und Campinggas am Start und an zwei Checkpoints zum Nachfassen bereitgestellt werden. Wasser gibt es in Form knackigkalter Bäche mehr als ausreichend, Strom und Verbindung zur Außenwelt via Handy dafür gar nicht.

Doping für Aug und Gemüt

Das senkt beim gemeinen „Ich-bin-immer-erreichbar"-Büromenschen den Stresspegel ganz automatisch - und hebt den Abenteuercharakter der Mini-Expedition zusätzlich. Auch weil das Panorama nicht mit landschaftlichen Reizen geizt. Schneebedeckte Gipfelketten hängen am Horizont. Sämtliche der elf 2.000er Schwedens befinden sich in Lappland, darunter auch der mit 2.104 Metern höchste Berg des Landes, der Kebnekaise. Sanft dahinrollende Hügel, eine die kurze Vegetationszeit üppig auslebende, knorrige Pflanzenwelt und dunkel schimmernde Seen mit gemütlichen Sand- und Kiesstränden sind Doping für Aug und Gemüt.
Einziger Haken: Myriaden hungriger Gelsen, die Großangriffe auf freie Hautflächen fliegen (oder gleich durchs Gewand stechen). Vor allem in der Dämmerung - und die dauert hier Mitte August fast die ganze Nacht. Es ist das langsame Ausdimmen der Mitternachtssonne-Periode. Das Gute dran: Man kann dadurch auch dann noch die spärlich ausgeschilderte, aber immer gut erkennbare Route entlang marschieren, wenn es in unseren Breiten schon längst zu finster wäre.
Meist trifft man zu dieser Zeit aber nur mehr aufgeregt durchs Gebirgsheidegestrüpp schnatternde Rebhühner. Mit viel Glück vielleicht ein Rentier. Aber eigentlich hält sich die Lust der durch den Ausdauertest zusehends strapazierten Gehwerkzeuge auf Nachtwanderungen ohnehin in überschaubaren Grenzen. Dann schon lieber ein kleines Lagerfeuer gleich neben einem laut gurgelnden Wildbach, den man kurz davor über eine wackelige Hängebrücke überquert hat. Ja, das alles klingt verdächtig nach hochdosierter Outdoor-Droge. Schweden eben.